Inkubus
vielleicht nie wieder in seinem Leben irgendetwas tun wird …«
»Öffnen Sie bitte!«
»Er leidet unter einem schweren katatonischen Schock …«
»Öffnen Sie nun endlich die Tür, verdammt!«
Der Arzt warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Ja … Ispettore Palermo«, sagte er dann und schloss auf.
Giacomo Amaldi betrat das Zimmer, das ganz in Weiß gehalten war.
Er entdeckte ihn nicht gleich. Das Bett war zerwühlt, aber leer. Auf dem Kissen Blut- und Eiterflecken. Das Zimmer lag im Halbdunkel. Dann raschelte es in einer Ecke. Amaldi drehte sich um. Es war der dunkelste Winkel des gesamten Raums. Primo Ramondi hatte sich unter das Waschbecken verkrochen, die Knie an die Brust gezogen, die Arme um die Beine geschlungen. Sein Kopf schwang langsam vor und zurück, war unaufhörlich in Bewegung. Das hässliche haarlose Gesicht – das sich nicht entscheiden konnte, ob es das Gesicht eines Kindes, einer Frau oder eines Mannes sein sollte – war völlig zerschlagen und verschwollen, dunkle Blutkrusten und Flecken eines Antiseptikums überzogen es. Seine Augen starrten auf einen unbestimmten Punkt an der gegenüberliegenden Wand. Primo Ramondi spiegelte sich im Nichts. Er schien die Anwesenheit der beiden Besucher überhaupt nicht zu bemerken.
Amaldi ging zu ihm, kniete sich neben ihm hin und legte ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter.
»Ramondi, hörst du mich?«, fragte er.
Primo Ramondi schaukelte weiter mit dem Kopf vor und zurück.
»Steht er unter Beruhigungsmitteln?«, fragte Amaldi den Arzt.
»Natürlich. Beruhigungsmittel, Schmerzmittel, Antibiotika … Was haben Sie denn erwartet? Dass wir ihn so behandeln wie Sie?«
Amaldi holte eine kleine Taschenlampe aus der Innentasche seiner Jacke, richtete sie auf Primo Ramondis geweitete, blicklose Pupillen und schaute forschend hinein.
»Primo …«, flüsterte er und kam noch näher. »Primo …«
»Das ist sinnlos. Mit seinem Verstand ist er nicht hier bei uns …«, griff der Arzt ein. »Ich weiß nicht, wo er ist … Aber er ist nicht hier und nicht bei uns.«
Amaldi stand auf und sagte: »In Ordnung, danke, Dottore.«
»Ispettore Palermo …«, fuhr der Arzt fort, »empfinden Sie nicht wenigstens einen Hauch Mitleid mit diesem armen Teufel?«
Amaldi verließ das Zimmer, ohne darauf einzugehen. Er lief entschiedenen Schrittes den Flur entlang und grüßte den Wärter mit gesenktem Kopf. Dann durchquerte er den Eingangsbereich zur Gefängniskrankenstation und verließ das Gebäude.
Frese und Max warteten im Wagen auf ihn.
»Fahren wir«, sagte Amaldi und setzte sich neben Frese.
»Torrisi hat sich gerade gemeldet«, sagte sein Stellvertreter und ließ den Wagen an. »Die Spuren, die an der alten Frau sichergestellt wurden, bestätigen, dass es Primo Ramondi gewesen ist, der ihr den Hals umgedreht hat.«
Aus dem Käfig neben Max auf dem Rücksitz des Wagens hörte man es kläglich miauen.
»Hat Ramondi was gesagt?«, fragte Frese.
»Nein …«, antwortete Amaldi. »Und ich bezweifele auch, dass er je wieder aus diesem Albtraum erwacht, in den er versunken ist.«
»Er ist zwar nicht unser Mann, aber er ist trotzdem ein Dreckskerl«, erklärte Frese.
»Stimmt …«
Torrisi hatte mehr als effiziente Arbeit geleistet. Am nächsten Morgen hatte Amaldi die Kopie des Autopsieberichts für das zweite Opfer vorliegen. Er saß am Tisch auf der Terrasse, die Akte noch ungeöffnet vor sich, und hörte, wie Max nebenan im Arbeitszimmer hektisch auf die Tastatur seines Computer einhieb. Noch nach zwei Jahren errötete Max jedes Mal, wenn er Giuditta begegnete. Die rote Katze jagte im Garten Eidechsen, wobei ihr die Kinder auf Schritt und Tritt folgten. Gestern Abend hatte Giuditta das Tier gerührt an sich gedrückt. Sie hatte es als winziges Katzenbaby mit der Flasche aufgezogen.
Frese war in der Stadt.
Amaldi schlug die Kopie des Autopsieberichts auf.
Giaime Pileggi war 39 Jahre, 1,80 Meter groß, wog 73 Kilo. Ihm gehörte eine gut gehende Zahnarztpraxis mitten im historischen Zentrum. Er hatte zwei Angestellte, eine Sekretärin und einen Zahntechniker.
Der Ablauf des Mordes war nur allzu offensichtlich. Jemand hatte Pileggi an eine Eisenleiter gefesselt und danach in die Tiefe geworfen. Eine Drahtschlinge hatte sich nun immer enger um seine Kehle gezogen, das andere Ende des Drahtes war an der Basis einer Fernsehantenne verankert. Als der Draht fest gespannt war, hatte die Zugkraft den Kopf vom Körper abgerissen. Zwei Meter tiefer hatte
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