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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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lustvoll.
    Nachdem Palermo das Dover Beach verlassen hatte, folgte er den abschüssigen Straßen bis zum Hafen hinunter, doch als er in die Nähe des Polizeipräsidiums kam, ging er daran vorbei bis zu dem großen Platz, wo die Schiffe be- und entladen wurden. Er lief an den verrosteten Containern entlang, von denen der Lack abblätterte, überquerte einen kleinen Eisensteg und kam dann zu einem weiteren Platz, über dem der moderne, aber bereits Spuren des Verfalls aufweisende Autobahnzubringer verlief. Am letzten Pfeiler der Überführung befand sich ein Taxistand. Der Inspektor stieg in den ersten freien Wagen, nannte dem Fahrer eine Adresse und lehnte sich in seinem Sitz zurück. Durch das Seitenfenster des Wagens betrachtete er das chaotische Treiben der Stadt und ließ es an sich vorüberziehen wie eine Diashow. Ein heruntergekommenes Wohnhaus im Käfig, dessen Fassade vielleicht früher leuchtend ockergelb gewesen war. Ein anderes, dessen Fenster mit Brettern vernagelt waren und an dem noch Transparente hingen, die den Zorn der Bewohner in die Welt hinausschrien. Als sie sich weiter von dieser deprimierenden Gegend entfernten, kamen die bürgerlichen Viertel in Sichtweite. Aufwendig gestaltete Fassaden, bemalte Kranzgesimse, kraftstrotzende, muskulöse Putten, die schmiedeeiserne Balkone stemmten, Löwen mit offenen Mäulern neben verspiegelten und golden umrahmten Eingangstüren. Es folgten ein paar Wohnblocks, dann kamen sie in die Viertel, die in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts entstanden waren. Sozialer Wohnungsbau, mit Unterstützung der Versicherungen. Große Innenhöfe mit einer bunten Mischung von Pflanzen und Gewächsen, die von Palmen über Tannen und Kiefern bis zu Pinien reichte. Staubwolken erhoben sich dort, wo Kinder auf den Schotterplätzen spielten, die aus großen Flusskieseln bestanden. Schließlich die bizarren Silhouetten der neuen Sozialbauten, die sich krampfhaft um Originalität bemühten. Grelle Farben, unmögliche Designs für Fenster und Balkone, Glasfronten, die für Licht in Fluren, Treppenhäusern und Aufzügen sorgen sollten, damit man den Stromverbrauch dort auf ein Minimum reduzieren konnte. Eine moderne Kirche, schmucklos, nackt, ohne die Vermächtnisse großer Künstler, die es in der Vergangenheit geschafft hatten, Gott seiner Würde entsprechend zu preisen. Palermo überlegte, dass eine Vorstadtkirche seit jeher ein merkwürdiger Zwitter aus dem gewagten Entwurf eines ehrgeizigen atheistischen Architekten und dem schlichten rechteckigen Klotz war, den ein geiziger Bauherr dann hochzog.
    Der Taxifahrer fuhr in einer belebten Geschäftsstraße rechts an den Fahrbahnrand. Er nahm einen Stadtplan aus dem Handschuhfach, um den richtigen Weg durch das Viertel herauszusuchen.
    Palermo hätte ihn sicher durch die Straßen leiten können, doch er blieb schweigend auf der Rückbank sitzen und beobachtete die Passanten, während er in weit zurückliegende Erinnerungen versank. Erinnerungen an ein Leben, das so fern war und sich so sehr von seinem jetzigen unterschied, dass es ihm wie das Leben eines anderen Menschen vorkam. Manchmal verlor er sich in der Betrachtung dieses Lebens, doch es gelang ihm nie, sich selbst in dem Kind wiederzuerkennen, das am Ufer des Sees entlanglief oder durch den grünen Garten voller Kamelien rannte, in dem Eiben und Steineichen ihre Schatten warfen, die den kalten und regenreichen Wintern trotzten. Palermo wusste, dass er hier gelebt hatte, dass dies das Haus seiner Eltern war, er sah seine Mutter deutlich vor sich in ihrem warmen und feuchten Gewächshaus, aber er konnte sich selbst dort nicht wiederfinden, nicht einmal einen flüchtigen Moment lang. Seine Vergangenheit glich einer Reihe von Begräbnissen, dachte er zuweilen. Das Kleinkind, das über den Rasen lief, war gestorben. Ebenso der Knabe, der auf der Suche nach Wahrheit gewesen war. Der junge Mann, der sich bei der Polizei beworben hatte, war tot. Genau wie der Inspektor, der mit achtunddreißig eine vielversprechende Karriere vor sich hatte. Und der schüchterne Homosexuelle, der nach einer verwandten Seele gesucht hatte. Der Einzige, der in ihm überlebt hatte, war er, in seiner jetzigen Gestalt. Aber er war müde, seiner selbst überdrüssig und angewidert von all dem Schmutz und der Gewalt, mit denen er sich befassen musste. Bald würde auch das letzte Bild seiner selbst sterben, ein endgültiger Tod. Bei diesem Begräbnis würde er endlich nur noch eine Leiche im Sarg sein.

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