Inkubus
betrachtet sah es aus wie ein richtiges Meer. Er beugte sich über die Mauer aus Travertinstein und starrte auf das Straßenpflaster unter ihnen, bis in die Tiefe dieses Abgrunds. Und so blieb er stehen und vergaß darüber die Zeit.
Eine zarte Berührung am Rücken ließ ihn erschauern. Luz stand plötzlich neben ihm. Er hatte ihn nicht kommen gehört.
»Man geht doch nicht hier rauf, um dann nach unten zu schauen«, sagte Luz mit seiner rauen Stimme.
Palermo drehte den Kopf zur anderen Seite und wich seinem Blick aus. Er wollte vermeiden, dass Luz in seinen Augen den Schmerz sah, der ihn wieder fest im Griff hatte.
»Man kommt hier hoch, um in die Ferne zu sehen«, meinte Luz weiter.
Dann nahm er ihn bei der Hand und führte ihn zu einem runden Turm, in dem sich die Wasserspeicher befanden. Er zog sich auf einen gemauerten Quader hoch, in dem die Stromzähler tickten. Dort ließ er sich nieder, die Schultern an die Mauer gelehnt und die Knie zur Brust hochgezogen.
Palermo setzte sich neben ihn, und gemeinsam starrten beide in die Ferne auf einen imaginären Punkt am Horizont. Und doch war sich Palermo sicher, dass sie jedes Mal denselben Punkt betrachteten. Er streckte seine kräftigen, muskulösen Beine aus.
Luz legte sich neben ihn und bettete seinen Kopf darauf, wenige Zentimeter von Palermos Penis entfernt. Dann rollte er sich mit einer kindlichen Bewegung herum, die den Polizisten mit Rührung erfüllte, um ihm in die Augen zu sehen. Nun lag sein Nacken auf Palermos Penis. In Luz’ Augen lag ein strahlendes Leuchten. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Palermo legte ihm einen Finger auf die Lippen. Luz lachte nur und wandte sich wieder dem Horizont zu.
Dann zog sich Palermo die Jacke aus und legte sie schützend um Luz’ nackte Schultern. Langsam fuhr er ihm mit einer Hand durch die Haare. Löste jede einzelne Strähne, die der Schweiß auf seiner Stirn festgeklebt hatte, bis er die lange Narbe freigelegt hatte, die sich von der Schläfe in gerader Linie bis fast zum Hinterkopf zog. Ein weißer Streifen, auf dem keine Haare wuchsen. Ein glatter, breiter Streifen Fleisch, der erhaben war. Er schloss die Augen und fuhr mit einem Finger darüber. Dann legte er seine Handfläche auf die Narbe.
Luz legte seine Hand auf die von Palermo.
»Du weißt es, nicht wahr, Ferrante?«, flüsterte Luz.
»Natürlich.«
So blieben sie beide, bis sich die Sonne in einen Flammenball verwandelte, der bald zischend im Wasser der Weltmeere versinken würde. Sie vergaßen die Zeit.
Palermo sah Luz an. Er schlief.
Während die Dunkelheit über sie hereinbrach, hätte Palermo gerne geweint. Aber er hatte keine Tränen mehr.
»Ich bin schon zu weit gegangen, um noch hoffen zu können, dass es für mich ein Zurück geben könnte«, dachte er und war froh, dass Luz es nicht hörte.
V
» Papa ?«, fragte Amaldi noch einmal, als könnte er es nicht glauben.
»So hat er gesagt. Papa «, antwortete Frese geduldig.
In diesem Moment kam ein kleiner, knapp dreijähriger Junge, der sich kaum allein auf seinen pummeligen Beinchen halten konnte, durch die Sonne zur Terrasse herüber, wobei er sich die Augen mit der Hand beschattete.
»Hallo Stöpsel«, sagte Frese, als er ihn bemerkte.
Der Junge wich in den Schatten zurück.
Frese stand auf und ging zu ihm hin. »Bist du etwa beleidigt?«, fragte er ihn. »Warum denn? Wenn so ein langer Lulatsch zu dir Stöpsel sagt, ja, dann kannst du beleidigt sein. Wenn aber ein anderer kleiner Mensch, so jemand wie ich, dich Stöpsel nennt, dann ist das so, als ob er sagen würde … äh, also, das ist dann so, als würde er zu dir sagen, dass er dein Freund ist.«
Das Kind wich noch weiter vor ihm zurück, bis es mit dem Rücken zur Wand stand und ihm kein Ausweg blieb.
»Hast du verstanden, Stöpsel?«, sagte Frese und lächelte ihm aufmunternd zu.
Die Mundwinkel des Jungen verzogen sich nach unten und ihm stiegen die Tränen in die Augen. Aus der Küche hörte man Topfklappern, Kindergeschrei und über alldem Lärm Giudittas Stimme.
»Also komm, jetzt spiel hier nicht die Heulsuse«, sagte Frese und streckte dem Jungen eine Hand hin. »Los, komm schon, Stöpsel …«
Ein helles Rinnsal lief unter den kurzen Hosen des Jungen hervor und schlängelte sich an den pummeligen Beinchen entlang. »Giuditta!«, schrie Frese in Richtung Küche. »Giuditta! Der Kleine hat sich vollgepinkelt!«
Daraufhin heulte der Junge laut los.
»So eine Scheiße … ist ja schon gut, jetzt
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