Inkubus
Eigentlich wäre er ja schon vor einem Jahr gestorben, wenn er nicht seinem Engel mit der rauen Stimme begegnet wäre.
Als der Fahrer ihn etwas fragte, tauchte Palermo gerade so weit aus seinen Erinnerungen auf, dass er ihn mit abwesendem Blick anstarren und mit »ja gut« antworten konnte. Er wusste nicht einmal, was der andere ihn gefragt hatte. Das war auch unwichtig.
Wieder sah er aus dem Fenster, betrachtete die kümmerlichen Bäume, die im Auftrag der Stadtverwaltung gepflanzt worden waren. Je weiter man sich aus der Stadtmitte entfernte, desto spärlicher wurde das Grün. Zu Hause am See hatten die Eichen bis zum Himmel gereicht, die Äste der Eiben breiteten sich bis zum Horizont aus, und die Steineichen bohrten ihre Wurzeln in das lebendige Herz der dunklen Erde. All das hatte ihm seine Mutter gezeigt. Wie alles Schöne. Die Blumen und die Musik.
»Wir sind da«, sagte der Fahrer schließlich.
Aber dies war nicht mehr sein Leben. Es gehörte einem Kind, das ihm nicht einmal ähnelte. Palermo bezahlte und stieg aus.
Als er die schreckliche Haustür aus eloxiertem Aluminium mit der Doppelverglasung sah, besserte sich Palermos Laune plötzlich. Er war dort, wo er sein wollte. In einer Welt, die es eigentlich nicht gab. In einem zeitlosen Raum. Er stieß die Eingangstür auf und ging zum Aufzug. Neunter Stock. Nur noch ein paar Stufen und er stand wieder vor einer Tür, von der bereits die Farbe abblätterte, obwohl das Haus erst wenige Jahre alt war. Er öffnete sie und trat ins Freie.
Ganz hinten auf der Dachterrasse des Wohnhauses, hinter einer Reihe von zum Trocknen aufgehängten Laken, die in der abgasverschmutzten Stadtluft grau wurden, sah er ihn. Der Engel mit der rauen Stimme war da, wie immer, und kümmerte sich um seine Tauben.
»Ciao, Ferrante«, sagte Luz zu ihm, sobald er seine Schritte vernahm.
Es war jedes Mal so, als hätte er ihn schon erwartet. Jedes Mal freute er sich, ihn zu sehen. Niemand sonst nannte ihn beim Vornamen. Das war derselbe Name wie der des Jungen am See, den er jedoch im Lauf seines Lebens verloren hatte. Luz hatte nicht die Kraft, dieses Kind wieder zum Leben zu erwecken, niemand hätte das geschafft. Aber Luz erweckte einen Mann wieder zum Leben, der vor zwölf Jahren gestorben war. Für ein paar Momente, die Zeit, die sie an diesen trägen Nachmittagen zusammen auf dem Dach des Wohnhauses verbrachten, ließ er ihn wiederauferstehen.
Palermo hätte Luz gerne umarmt. Doch er fasste ihn nur selten an. Er hatte Angst, ihn zu besudeln.
Stattdessen sagte er nur: »Ciao.«
Luz war vollkommen. Er hatte ein Leuchten in den Augen, das kein anderer jemals haben würde. Er war ein Engel. Ein Engel mit einer rauen Stimme, der auf der Dachterrasse eines Wohnhauses Tauben züchtete.
»Wir haben sieben Eier«, sagte Luz.
Palermo gab niemals zynische Kommentare von sich, wenn er oben auf dem Dach bei Luz war. Sie kamen ihm schlicht nicht in den Sinn. Und er sprach wenig. Ihm genügte es, bei seinem Engel zu sein, ihn anzuschauen und seinen Worten zu lauschen. Dort oben mochte er sogar die Tauben.
»Ich muss gründlich sauber machen«, meinte Luz und schlüpfte in den Verschlag. »Anscheinend gibt es hier Ratten. Wenn es nicht riecht, kommen sie auch nicht so schnell her.«
Palermo sah ihm bei der Arbeit zu. Luz trug einen blauen Overall, von dem er die Ärmel abgetrennt hatte. Seine schmalen starken Arme waren nackt. Lang gestreckte Muskelpakete, geschickte Finger, fließende, anmutige Bewegungen. Der Reißverschluss seines Overalls stand bis zum Brustbein offen. Darunter trug er ein weißes enganliegendes T-Shirt, das seine kräftigen Muskeln betonte. Auch in dieser Kleidung strahlte er eine außergewöhnliche Eleganz aus.
»Ist dir nicht kalt?«, fragte Palermo ihn.
Luz drehte sich um und sah ihn mit diesem Leuchten in den Augen und dem Anflug eines Lächelns auf den Lippen an. Eine verschwitzte Haarlocke fiel ihm in die Stirn. Er war einfach herrlich. Ein Gott. Seine blitzend weißen Zähne schienen nur für Palermo zu strahlen. Sie schauten einander lange in die Augen. Die beiden Männer verband eine rein platonische Anziehung. Ohne schmutzige Hintergedanken. Schließlich nahm Luz seine Arbeit wieder auf und entfernte den restlichen Taubenkot vom Boden.
Palermo trat an die Brüstung. Von dort oben konnte man auf der einen Seite auf die Stadt blicken und auf der anderen so weit über das Meer, bis es am Horizont in einem dünnen blauen Streifen endete. Aus der Ferne
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