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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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X auf der Brust.
    »Was wolltest du mir damit sagen?«
    Er nippte an seinem Kaffee. Mit den beiden Bildern in der Hand stand er auf und ging durch die Terrassentür hinaus ins Freie. Die salzige Nachtluft war kalt und undurchdringlich. Das Meer vor ihm war nur ein einziger dunkler Fleck. Das Brandungsgeräusch der Wellen, die sich am Ufer brachen, drang den Pfad hinauf, legte sich über die Weinreben und lullte Amaldis Gedanken ein. Er blieb so stehen und starrte hinaus in die Dunkelheit. Ihm war bewusst, dass er sich in einem Niemandsland befand, zwischen dem Gebiet der normalen Menschen und dem der Monster. Jetzt lag es an ihm, den letzten Schritt zu tun. Er hatte das Gefühl, durch eine Nebelwelt zu schreiten, in der nichts mehr blieb, woran man sich orientieren konnte. Wenn er die falsche Richtung einschlug, würde er vielleicht wieder im Sumpf versinken. Wie schon einmal. Oder er konnte in alle Ewigkeit diese Zwischenwelt durchstreifen. Sich verirren. Amaldi hatte Angst, Angst, auch nur einen einzigen Schritt zu tun. Er blieb unbeweglich stehen und starrte weiter in die Dunkelheit. Sein Kopf war leer.
    Er hätte nicht sagen können, wie lange er so verharrte.
    Schließlich sah er sich wieder die beiden Fotos an. Die zusammengenähten Lippen. Die beiden X auf dieser Brust, die so weich und üppig wie ein weiblicher Busen war.
    »Warum kommt es mir so vor, als hätte dies ein anderer getan?«, fragte er die Nacht. »Warum habe ich das Gefühl, dass sie … zwei verschiedene Sprachen sprechen?«
    Und er stellte sich einen Körper mit zwei Köpfen vor.

VI
    Etwas war ihm sofort an dem Kind aufgefallen und hatte ihn beeindruckt – dieses Licht. Ein ganz besonderes Licht. Strahlend und doch finster. Das Licht der Dunkelheit.
    Dann hatte er die Narbe geöffnet. Und die Narbe war erneut zur Wunde geworden.
    Die weißen Kacheln hatten sich rot gefärbt.
    In jener Nacht des Blutes hatte er das Papiermesser in der Hand gehalten.
    Er war aus dem Heim davongelaufen, ohne zu wissen, wohin er gehen sollte. Er wusste nur, dass er etwas suchte, das noch sauber war, das nach Frische, Waschmittel und Bleichmittel roch. Er suchte nach etwas Weißem.
    Als er es endlich gefunden hatte, hatte er sich beruhigt. Er hatte seine Nase in diese Reinheit gedrückt, die nach Sauberkeit roch, und hatte das Kind vergessen. Hatte sich nackt auf dieser tröstlich weichen, fleckenlos reinen Fläche ausgestreckt. Er hatte die Geschichte vergessen, die er in den tränenfeuchten Augen dieses strahlenden und zugleich so düsteren Wesens gelesen hatte. Er war im Weißen eingeschlafen, während seine Nase beglückt diesen sterilen Duft einsog, der frei von Sünde, eigenschaftslos war. Ohne Vergangenheit war, ohne Gegenwart, ohne Zukunft. Ein pures, absolutes Weiß. Wie eine Geschichte, die niemals niedergeschrieben worden war. Es war, als hätte er selbst niemals existiert, als hätte er selbst keine Geschichte, als könnte in dieser weißen, reinen Welt die Lüge nicht überleben. Als hätte er keinen Körper mehr. Weder den eigenen noch den eines anderen. Als wäre er wunschlos und würde nicht von einem anderen Leben träumen, das sich grundlegend von seinem wirklichen unterschied. Als würde er keine Luft brauchen, um zu atmen.
    Doch das Weiß hatte sich erneut befleckt.
    Jetzt war nur noch eine von ihnen übrig, eine alte, beinahe blinde Frau, und die ließ sich fast nie in den Schlafsälen blicken. Vor allem nicht im Winter. Weil es dort so kalt war. Genau wie damals. Sie würden einander nicht begegnen. Und selbst wenn, würde sie ihn wohl kaum wiedererkennen.
    Damals war er nur ein kleiner Junge gewesen.
    Jetzt war er die Putzfrau.
    Die Verwaltungsvorschriften, die regelten, wer in Waisenhäusern arbeiten durfte, waren nach außen hin ziemlich streng, doch die Schwestern mochten keinen Bürokram. Er hatte ihnen eine mitleiderregende Geschichte aufgetischt, was eben in solchen Fällen zielführend war, und schon hatte man ihm erlaubt, zweimal die Woche dort schwarz in den Schlafsälen zu arbeiten. Er wischte nur die Böden mit Bleichmittel und einem Putzlumpen. Beobachtete die Kinder im Hof, sog den Geruch ihrer Betten ein, wühlte in ihren unbedeutenden Besitztümern. Kleine Schätze, die sie in den Schubladen ihrer vollkommen identischen Nachttische aus Resopal hüteten. So einen hatte er auch gehabt, als er einer der vielen Schutzbefohlenen des Heims gewesen war. In diesem Waisenhaus.
    Das war ein Spiel. Ein lustiges Spiel. Er sah den Kindern

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