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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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die Mittagsruhe.«
    »Ja, Schwester, ich gehe gleich«, antwortete Luz.
    Die Schwester wandte sich den Fenstern zu und schloss langsam einen Laden nach dem anderen, bis der gesamte Schlafsaal im Halbdunkel lag.
    »Ich habe gehört, dass man dich bald verlegt«, flüsterte Luz dem Jungen zu.
    »Ja, ich komme in ein anderes Heim«, antwortete der leise. »Eines für die größeren Kinder.«
    »Hast du Angst?«
    »Was soll denn das!«, empörte sich der Junge.
    »Signorina …«, sagte die Schwester und wandte sich zum Gehen.
    »Ich komme schon. Nur noch einen Moment …«, antwortete ihr Luz und sah wieder den Jungen an.
    »Ich habe vor gar nichts Angst«, sagte der trotzig.
    »Das habe ich doch nur so gesagt«, flüsterte Luz.
    Der Junge schüttelte frech die Strähne nach hinten, doch in seinen Augen lag ein Ausdruck von Verlorenheit, als ob er einen inneren Kampf ausfechten würde.
    »Ich bin nicht wie diese kleinen Wichser hier …«, sagte er und zeigte auf die anderen Jungen.
    Luz hatte auch in seinem Nachtschränkchen gewühlt. Die Schublade war leer gewesen. So wie seine damals. Keine Schätze. Nichts Persönliches.
    »Ich kann deine Möse riechen«, sagte der Junge und versuchte, die kieksenden Töne in seiner pubertären Jungenstimme zu unterdrücken.
    Luz drehte ihm den Rücken zu und bückte sich unter das Bett gegenüber.
    Da berührte die zarte Hand des Jungen schüchtern Luz’ Schenkel und tätschelte seinen Hintern. Luz bewegte sich nicht.
    »Signorina …«, drängelte die große, hagere Schwester.
    Luz drehte sich um, nahm die Hand des Jungen und küsste sie.
    Dann sammelte er Putzlumpen, Eimer und Wischmopp auf und ging zum Ausgang des in Dämmerlicht getauchten Schlafsaals.
    Ferrante Palermo war in den Polizeidienst eingetreten und zum Sittendezernat gegangen, weil er Kinder mochte. Oder zumindest hatte er nachdem er diesen Berufsweg eingeschlagen hatte und während seiner Arbeit für das Sittendezernat gemerkt, dass er Kinder mochte. Aus diesem Grund – den nur er kannte – hatte er nie einen Versetzungsantrag gestellt, obwohl die Karrierechancen beim Morddezernat, wo die Besten der Besten arbeiteten, wesentlich besser waren.
    Während Palermo durch die auch um diese Tageszeit dunklen Straßen des Käfigs lief, dachte er über diese schmutzige Stadt am Meer nach, die ihm nach fast dreißig Jahren des Zusammenlebens in Fleisch und Blut übergegangen war, ohne dass er je eine echte emotionale Beziehung zu ihr aufgebaut hätte. Nicht einen Augenblick lang war es ihm gelungen, sie als seine Heimat zu betrachten.
    Palermo gehörte nicht hierher, sondern an einen kleineren, abgeschiedeneren Ort. Einen Ort, einsam und melancholisch, grün und regenfeucht, der auf fetter, dunkler Erde gebaut war, wo das Schweigen der menschenleeren Natur nur vom rhythmischen Klatschen des Sees gegen den Bootssteg einer Villa unterbrochen wurde, die so einsam wie ein Leuchtturm auf einer Insel im Meer lag. Palermo gehörte zu diesem Ort, an dem das Kind geboren und aufgewachsen war, in dem er sich trotzdem seit so vielen Jahren nicht mehr wiedererkennen konnte. Und seine gequälte Seele verurteilte sich selbst zur Erinnerung an das, was zu genießen ihm die Kraft fehlte.
    Inzwischen war die Villa verkauft. Vor zwölf Jahren war er, auf der Suche nach Antworten, zurückgekehrt, um dort in der Erde nach seinen eigenen verlorenen Wurzeln zu graben. Vielleicht hatte er auch gehofft, das Kind und seinen Seelenfrieden zu finden und zumindest für einen Augenblick zu jener unschuldigen Zeit zurückzukehren.
    Aber all das war tot und begraben. Palermo hatte begriffen, dass er zur Erinnerung an etwas für immer Verlorenes verdammt war. Erst in jenem Moment vor zwölf Jahren – während er ohnmächtig zusehen musste, wie ein Teil seiner selbst langsam starb – hatte er sich in ein Leben voller trauriger Erinnerung gefügt. An diesem Ort, der für immer ausgelöscht war, hatte er seine verschiedenen Ichs, die eins nach dem anderen gestorben waren, begraben. Ein tränenloses Begräbnis, an der Stelle, wo früher das Gewächshaus stand. Dann hatten ihn die neuen Eigentümer bemerkt und verjagt. Palermo hatte sich nicht gerechtfertigt, ihnen nicht erklärt, wer er war – oder gewesen war –, weil nicht einmal er selbst das wusste. Er hatte sich davongeschlichen wie ein streunender Hund.
    Sein vergangenes Leben fühlte sich für ihn inzwischen wie eine Geschichte an, die er in einem Buch gelesen hatte. Er kannte sie, konnte sich an

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