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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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sie erinnern, hätte sie erzählen können, aber er wäre niemals im Stande gewesen zuzugeben – oder tief in seinem Inneren zu empfinden –, dass dies sein Leben war.
    Eine Prostituierte, die an der Tür zu ihrem schäbigen Zimmer im Erdgeschoss gestanden und auf Kunden gewartet hatte, zog sich ins Innere zurück, als sie ihn bemerkte. Palermo sah ihren Schatten, der vom Schein einer Tag und Nacht brennenden Lampe von innen auf das schmutzige Pflaster geworfen wurde. Die Prostituierte versteckte sich nicht vor dem Gesetz, sie wollte ihm einfach nur aus dem Weg gehen.
    »Ciao, mein kleiner Schmetterling«, sagte Palermo und trat grinsend an die Tür. »Hat dir deine Mutter nicht beigebracht, was sich für ein anständiges Mädchen gehört?«
    »Leck mich doch, du Schwuchtel«, erwiderte die Prostituierte.
    »Hat man dir erzählt, dass sich hier ein tollwütiger Hund herumtreibt, der gern an Huren knabbert?«, fragte Palermo weiter.
    Die Prostituierte schwieg und sah ihn nur ernst an.
    »Natürlich hat man dir das erzählt«, meinte Palermo.
    »Leck mich, du Schwuchtel.«
    Palermo lachte und kam noch näher. Ein trockenes Lachen, das in ihm dröhnte wie ein Schrei und an das kreischende Geräusch erinnerte, wenn man mit einem Fingernagel über eine Schiefertafel kratzt.
    Ich werde dich kriegen, dachte Palermo hasserfüllt.
    Als er ein Kind war, hatte seine Mutter immer zu ihm gesagt, sein Lachen klinge so hell und frisch wie ein rieselnder Gebirgsbach. Doch dieser Gebirgsbach war ausgetrocknet, als das Kind gestorben war.
    Ich werde dich kriegen, ehe er dich findet …, dachte er, während noch mehr Hass in ihm hochkochte. Hass und wilde Eifersucht.
    Palermo war in einer abgeschiedenen Villa an einem See geboren worden, der so groß war wie ein Meer und voller Süßwasserfische, Strudel und schauriger Legenden. In einer Villa mit zwei gedrungenen, efeuüberwucherten Türmchen. Und einem großen Park. Ein paar Kilometer von einem kleinen Dorf entfernt und nicht allzu weit weg von einer chaotischen, anonymen Stadt. Seine Eltern waren hierher umgezogen, ehe er auf die Welt kam.
    Sein Vater war ein berühmter Strafverteidiger, der die Kriminellen aus den Vorstandsetagen der Banken vor Gericht um des Geldes willen vertrat, die Mörder hingegen aus Leidenschaft und Geltungssucht. Palermo war es nie gelungen, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Der Mann war immer zu sehr von seinen Prozessen in Anspruch genommen und hatte auch kein natürliches Gespür dafür, wie er mit seiner Familie über Alltägliches sprechen sollte. Als wollte er weder sehen noch merken, dass es sie überhaupt gab. In Palermos gefühlter Erinnerung war nur ein verschwommenes Bild von ihm geblieben, wie er stumm an seinem Schreibtisch saß, in die Akten vertieft, die er nach Hause mitgenommen hatte. Der brillante Mann, über den die Zeitungen schrieben, der ab und an in den Nachrichten zu sehen war, war nicht sein Vater. Für ihn war der Mann, der an seinem Entstehen beteiligt war, so etwas wie ein Fremder, der sein Studium, die Villa, die Vergnügungen seiner Gattin und am Monatsletzten das Dienstmädchen bezahlte. Eigentlich war er nur eine Art Verwalter. Später wurde er zu einem Mentor, um sich danach in einen von der Berufswahl seines einzigen Pflegebefohlenen – man konnte ihn kaum seinen Sohn nennen – schwer enttäuschten Vormund zu verwandeln, der schützend die Hand über ihn hielt. Denn Palermo hatte sich für den Polizeidienst entschieden, obwohl sein Vater für ihn eine finanziell wesentlich lukrativere Laufbahn vorgesehen hatte. Schließlich war der Vater gestorben, wie er gelebt hatte – mit der Würde eines abstrakten Phänomens. Großes Echo mit riesigen Schlagzeilen in der Presse. Nur ein leiser Nachhall in der Familie.
    Seine Mutter hatte sich offensichtlich mit der Gefühlskälte und der Lebenseinstellung ihres Mannes abgefunden. Schließlich konnte sie in den langen Stunden, die sie frei von dem Drama ihrer Ehe genoss, ihr lebensbejahendes Wesen ausleben und sich mit Begeisterung ihren großen Leidenschaften widmen: Musik und Blumen. Ihren ausgeprägten Sinn für Ästhetik hatte sie an ihren dafür empfänglichen kleinen Sohn weitergegeben, indem sie ihm die Welt durch eine weichzeichnende Brille zeigte, die alles Unschöne ausblendete. So wurden Ferrantes Ohren an klassischer Musik, vor allem Oper geschult. Er lernte, Interpreten zu unterscheiden, die Atembögen der Musik und ihre pulsierenden Rhythmen aufzunehmen, lernte, die

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