Inkubus
Geschichten zu verstehen, die diese Musik erzählte, und die Gefühle, die sie in einem weckte. Und seine Nase wurde von den intensivsten wie zartesten Düften erfüllt, sinnliche Erfahrungen, die denen der Musik nicht nachstanden. Aber anstatt ihn für das Leben vorzubereiten und aufgeschlossen zu machen, schufen diese überfeinerten Sinnesreize eine hermetische Welt, die zu perfekt war, als dass er sie draußen in der Realität wiederfinden konnte.
In dieser instinktiven Suche nach dem Wahren und Schönen lebte Ferrante lange Jahre wie in einem Kokon, ohne dass es ihm gelungen wäre, die Flügel auszubreiten und erwachsen zu werden. Jeden Tag zog der Junge, kaum dass er nach Hause gekommen war, hastig die verhasste, anonyme Schuluniform aus, schlüpfte in die nach gedüngter Erde riechenden Sachen, ein Geschenk seiner Mutter, die ihn zu ihrem persönlichen Assistenten gemacht hatte, und lief zu dem lichtdurchfluteten, feuchtwarmen Gewächshaus. Dort, in dem verwunschenen Winkel des Gartens, in den sein Vater niemals einen Fuß setzte, wartete seine Mutter auf ihn, wiegte sich im Takt einer Symphonie, in der Hand eine seltene Kamelie, die gerade ihre fleischigen Blüten öffnete. Und dort, wo er mit den Pflanzen die Tondichtungen der großen Komponisten der Vergangenheit in sich aufnahm, schottete sich Ferrante von der Außenwelt ab.
Auch wenn es eigentlich kaum sein konnte, nannten ihn in seiner Erinnerung nur zwei Menschen Ferrante, seine Mutter und Luz.
Dann hatte er eines Sommers in den Ferien mit seiner Mutter am Meer seine wahre Natur entdeckt. Oder war zumindest mit ihr in Berührung gekommen. Damals war er vierzehn gewesen. Fast noch ein Kind, gewiss noch kein Mann. Er hatte es sich angewöhnt, am Morgen in aller Frühe zu zwei Brüdern in ihr Fischerboot zu steigen und ihnen dabei zu helfen, die Netze einzuholen. Die Sonne hatte ihm die Haut verbrannt und Farben einer Welt gezeigt, die viel größer als seine eigene war. Das kristallklare Salzwasser – so viel lebendiger und gefährlicher als das träge trübe Wasser des Sees – hatte ihm die Blasen an den Händen geheilt, seine Haut gegerbt und sie zu männlichen Schwielen geformt. Die scharfkantigen glitzernden Felsen hatten seine zarten, von den weichen Teppichen in der Villa verwöhnten Fußsohlen gehärtet und gegen Schmerzen unempfindlich gemacht. Die schwere körperliche Arbeit hatte seine Muskeln entwickelt und die trockene Luft seine Knochen gefestigt. Der Schweiß seines Körpers hatte sich mit dem Blut der Fische gemischt, die nach Luft schnappend in seiner Hand starben.
Von diesem Sommer an war nichts mehr, wie es gewesen war. Der Kokon war geplatzt. Und in den endlos langen Nächten, in denen er sich nackt auf den weißen Laken hin und her wälzte, weil es so heiß war, hatte er seine Flügel ausgebreitet. Er träumte von den beiden Brüdern, den Fischern, wie ihn ihre muskulösen Arme packten, spürte ihren festen Griff, sah vor sich, wie sich ihre glänzende Haut in einem wütenden Gerangel aus Brutalität und Zärtlichkeiten, einer liebevollen Rauferei voller Schmerz und Lust mit seiner Haut vereinte. Am Morgen erhob er sich dann völlig erschöpft von seinem weißen Schlachtfeld. Eine Zeit lang fuhr er morgens nicht mehr mit den beiden Brüdern zum Fischen hinaus. Aber die Träume hörten dennoch nicht auf, und er verbrachte seine Tage damit, zu bedauern, dass er sie nicht begleitet hatte. Sehnlichst wartete er auf die Nacht, wo er wieder im Netz gefangen sein würde, wo er wieder die beiden brutalen und schönen Männer traf, die ihm den Atem raubten und die für alle Zeiten seine erste, unschuldige homosexuelle Liebe waren.
Nach seiner Heimkehr erkrankte er an einem unerklärlichen Fieber, für das nicht einmal der Arzt eine Ursache fand. Doch in seinem Kinderbett lag jetzt zitternd ein Mann. Seine Mutter tat zunächst so, als hätte sie nichts bemerkt. Sie hoffte, dass ihr Sohn sich wieder mit der üblichen Kost aus Musik und Blütenstaub, aus Violinen und Kamelienblättern begnügen würde. Irgendwann gab sie es auf, aber sie erlaubte ihm nicht, darüber zu sprechen. Duldete keine vertraulichen Geständnisse. Unter der brennenden Sommersonne war ihre kleine unschuldige Kamelie zu Wildwuchs mutiert. Und sie züchtete nichts so Gewöhnliches wie Ginster. Sie verschloss die Tür ihres Gewächshauses vor ihm. Und damit sich selbst.
Der Junge verbarg sich im Schatten und hielt den Atem an, denn der Doktor hatte sich plötzlich
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