Inmitten der Unendlichkeit
verzichtet, die Handgriffe mit einem temperaturneutralen Material zu umhüllen. Briks einziger Trost bestand in dem Gedanken, daß es für Cinnabar genauso schlimm gewesen sein mußte wie für ihn. Vielleicht sogar noch schlimmer. Cinnabar konnte nicht sicher gewesen sein, daß die Luftschleuse, auf die er zuhielt, für ihn offengestanden hatte.
Brik hatte die Hälfte des Weges zurückgelegt. Er machte ein kurze Pause am Zugangspaneel auf der Steuerbordseite. Er könnte es öffnen. Er könnte sich in die Luftschleuse fallen lassen und ins Schiff zurückkehren. Er hatte seine Annahme bewiesen. Aber… er mußte ganz sicher sein. Er warf einen weiteren Blick auf seine Uhr und überprüfte die Anzeige des Sauerstofftransfusors. Dann zog er sich am Zugangspaneel vorbei und hielt weiter auf das Heck der Sternenwolf zu.
Die Schmerzen in den Händen wurden schlimmer. Brik fauchte, aber er beachtete sie nicht weiter. Später war noch immer Zeit, sich Gedanken zu machen – wenn der Schmerz in seinen Fingern plötzlich aufhörte. Aber er war sich jetzt zumindest einer Sache sicher: Cinnabar mußte eine Art innerer Heizung in seinen Extremitäten gehabt haben. Dieser Schmerz war im höchsten Maße ablenkend.
Auf der anderen Seite waren Cinnabars Implantate nicht dazu geschaffen worden, dem Morthan-Assassinen Wohlbefinden zu bereiten, sondern seine Überlegenheit und Kraft zu stärken. Brik dachte darüber nach, während er sich weiter voranhangelte. Welche Beziehung hatten Morthaner zum Schmerz? Er wußte, wie er selbst damit umging. Er akzeptierte den Schmerz. Er entspannte den Schmerz, überließ sich voll seiner Empfindung, bis sie zu einem Teil von ihm geworden war oder er zu einem Teil von ihr, bis er nicht länger gegen etwas widerstand, das sich außerhalb befand, sondern den Schmerz als einen Teil von sich selbst betrachtete. Und wenn er diesen Prozeß vollendet hatte, dann war der Schmerz als Schmerz verschwunden, hatte aufgehört zu existieren und war zu bloßer Information geworden.
Gingen die Krieger der Morthan-Solidarität auf die gleiche Weise mit ihrem Unbehagen um? Brik hatte seine Zweifel. Cinnabars Reaktionen hatten zum Ende hin fast etwas Fröhliches an sich gehabt. Er hatte ausgesehen wie in Ekstase.
Brik waren Gerüchte zu Ohren gekommen, daß die Solidarität die neuralen Ströme ihrer Krieger routinemäßig umleitete, so daß alle Schmerzgefühle in Freude umgesetzt wurden. Konnte es sein, daß Cinnabar diese Erfahrung genossen hatte? Konnte sein Tod für ihn eine Art Orgasmus gewesen sein? Wahrscheinlich. Aller Anschein deutete darauf hin.
Allmählich bereitete es Brik Schwierigkeiten, seine Finger zu bewegen. Seine Hände waren schon einige Male von den Griffen der Weltraumleiter abgerutscht. Es begann, zu einem Problem zu werden. Er verscheuchte seine Grübeleien und versuchte, sich auf die noch vor ihm liegende Entfernung zu konzentrieren.
Er konnte nicht richtig sehen. Alles war verschwommen. Trotz der Gesichtsmaske hatten seine Augen auszutrocknen begonnen. Er spürte, wie sie nach und nach aus ihren Höhlen zu quellen begannen. Seine Trommelfelle drohten zu reißen. Er hatte sich nur um eine Kleinigkeit verrechnet – aber es spielte keine Rolle, ob er einen Zentimeter oder ein ganzes Lichtjahr daneben lag. Die Situation lief auf ein Entweder-Oder hinaus. Das Resultat lautete entweder Ja oder Nein.
Aber… wenn er hier draußen sterben sollte – dann würde das noch immer nicht beweisen, daß Cinnabar es auch nicht geschafft haben konnte. Nur wenn er überlebte, hätte er den unwiderlegbaren Beweis für Cinnabars Tat.
Der Tod machte ihm keine Angst. In seinen Adern gab es kein Adrenalin, und er hatte schon vor langer Zeit gelernt, die Ironie des Lebens zu verstehen. Aber Versagen – das war etwas, das ihn ärgerte. Versagen war etwas, das er nicht tolerieren konnte. Ganz besonders dieses Versagen hier. Weil niemand verstehen würde, worum es ihm gegangen war, wenn er es nicht schaffte, wieder an Bord zu kommen. Der Ansturm seiner Wut erfüllte ihn mit einem kurzen Schauer von Wärme. Er erinnerte sich an etwas, das Korie gesagt hatte. Es waren die gleichen Worte, die auch einer von Briks Vätern immer zu sagen pflegte: »Wut ist etwas Nützliches. Also benutze sie auch.« Trotz seiner Schmerzen mußte Brik grinsen. Korie dachte mehr und mehr wie ein Morthaner.
In der Zwischenzeit waren seine Bewegungen immer langsamer geworden. Jetzt stimmte er ein neues Mantra an. Ein Mantra der Wut.
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