Innenhafen
führte nach oben.
»Nun komm schon«, sagte er ungeduldig. »Gleich wird es wohnlicher. Ich bin schließlich kein Messi.«
Ach so. Ein Sammler also, kein Messi. Woran er diesen feinen Unterschied festmachte, war mir allerdings nicht so recht klar.
Er stieg die Treppe hinauf. Auch hier oben Regal neben Regal, vollgestopft mit Zeugs. Durch eine geöffnete Tür erkannte ich die schemenhaften Umrisse einer Badewanne im Dunkeln.
Wir betraten ein weiteres Zimmer, das in der Tat sehr viel wohnlicher war. An den Wänden Bücherregale, bis unter die Decke hinauf dicht gefüllt mit nichts anderem als Büchern. Ein Regal als Raumteiler, ebenfalls von beiden Seiten mit Büchern bestückt. Hinter dem Regal lugte das Fußende eines breiten Bettes hervor. Davor zwei rote Ohrensessel, einer mit Fußhocker, und ein Schachtisch, auf dem leicht abgegriffene, aber sehr schön geschnitzte Figuren standen. Jugendstil, das ganze Ensemble, tippte ich. Sicher eine Menge wert. Ein kleiner, runder Esstisch und drei ebenfalls rot gepolsterte Stühle befanden sich in der Ecke unter dem Fenster. Dort führte er mich hin.
»Also, was ist mit Kurt?«, fragte er.
»Er ist tot.«
Seine Augen drifteten auseinander.
Ich wartete. Wusste nicht, was ich sagen sollte. Und schon gar nicht, wo ich hingucken sollte.
»Deshalb also …«, sagte er schließlich erschüttert. Seine Stimme war zittrig. »Ich habe mich schon gewundert, warum er nicht wie üblich zum Schachspielen kam. Ohne abzusagen. So was macht er normalerweise nicht. Ich habe ein paarmal bei ihm geklingelt, aber er hat nicht aufgemacht. Außerdem hat abends nie Licht bei ihm gebrannt. Das kann ich nämlich von hier aus ganz gut sehen.« Er wies zum Fenster.
Mein Blick folgte seiner Hand. Ich sah auf die Rückfront von Kurts Haus, in dem einige Fenster hell erleuchtet waren.
»Erst habe ich gedacht, dass er in Urlaub gefahren ist und einfach vergessen hat, mir Bescheid zu geben. Zumindest habe ich das gehofft. Aber er hätte mir eine Karte geschickt. Hat er immer gemacht.«
»Er war also zuverlässig?«
»Ja. Deshalb hatte ich ja auch kein gutes Gefühl. Als ich vorhin das Licht ins seiner Wohnung gesehen habe, bin ich ganz schnell rüber. Einfach hinten über die Mauer, so eilig hatte ich es. Das mache ich sonst nie. Dann hab ich dich im Fenster gesehen. Ich hab noch überlegt, ob ich hochgehen soll, von wegen Damenbesuch und so, aber ich hab Kurts Wohnungstür gehört, die hat dieses ganz spezifische Knarzen, und dann bist du auch schon die Treppe runtergekommen. Wie ist er denn gestorben?«
Ich schluckte. Wusste nicht, wie ich es sagen sollte, und sagte es dann doch.
Sein rechtes Auge fixierte mich fassungslos. Dann drehte er sich weg und sah aus dem Fenster. »Er wusste nur vom Tod, was alle wissen: dass er uns nimmt und in das Stumme stößt.«
Ich horchte dem Klang der Worte nach. »Das ist schön«, sagte ich schließlich leise. »Von wem ist das?«
Schiller drehte sich wieder zu mir und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Rainer Maria Rilke«, sagte er, schniefte und zog die Nase hoch. »›Der Tod der Geliebten‹.« Sein Blick war trostlos. In seinen Augen schimmerte es feucht.
In meinem Kopf ratterte es los. »Wart ihr … äh …«
»Ich wollte damit nicht andeuten, dass wir ein Paar waren«, kam er meiner Frage zuvor. »Er war mein Freund. Lange schon. Nicht mehr und nicht weniger.«
»Und wenn es so wäre, wäre es mir piepegal«, sagte ich schnodderig. Dann lächelte ich. »Jedem Topf sein Deckel, würde Großmutter jetzt sagen.«
Schiller lächelte zurück. »Ja. Aber der Deckel gehörte nicht zu diesem Topf. Die Zeilen sind mir halt grade in den Sinn gekommen. Ich lese viel. Auch Gedichte. Seit meiner Kindheit schon. Und was ich lese, bleibt hängen.«
Jetzt verstand ich, wie er zu seinem Spitznamen gekommen war.
»Wann hast du Kurt zum letzten Mal gesehen?«, fragte ich, froh, dass er sich wieder gefasst hatte.
»Vor etwas über vier Wochen. Er hat mir geholfen, das Zechenhaus meines Großvaters zu entrümpeln. Alte Bergbaufamilie, schon seit mehreren Generationen. Dass ich diese Tradition gebrochen habe, hat sie alle sehr gekränkt. Egal. Auf jeden Fall hat Kurt kräftig mit angepackt. Es hatte sich eine ganze Menge Zeug angehäuft. Auf ihn war echt Verlass.«
»Ist dir irgendwas aufgefallen an ihm? War er anders als sonst?«
»Schon.« Schiller wischte sich eine Träne aus seinem Augenwinkel. »Ein paar Wochen lang war er
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