Innere Werte
veranlasse das gleich noch. Aber jetzt sagt mir mal, wo ihr den Gleisinger versteckt habt. Den wollten wir uns doch auch noch zur Brust nehmen.«
»War nicht aufzutreiben. Sorry, Chef!«
»Na gut! Heben wir uns den für morgen auf.« Martin nickte und gähnte. »Und du, Dieter, hast du was rausgekriegt?«
»Allerdings.« Er richtete sich auf und kramte seinen Block hervor. »Ich hab eine nette Dame in der Verwaltung gefunden, die mir bereitwillig Auskunft gegeben hat. Die Anzahl der Hirntoten in der Humboldt-Klinik beträgt im Jahr durchschnittlich neun, was ziemlich viel ist. Denn laut Statistik aller Kliniken in Deutschland gibt es insgesamt zirka viertausend Hirntote im Jahr, was im Durchschnitt zwei pro Klinik bedeuten würde. Dann habe ich mich erkundigt, wie viele davon in Wellners Klinik Organspender wurden.« Er blickte von einem zum anderen, bevor er weitersprach. Das tat er immer, wenn eine interessante Erkenntnis folgte. »Es waren acht. Das fand ich zunächst sehr viel, aber es scheint wohl so zu sein, dass grundsätzlich etwa neunzig Prozent der Angehörigen der Organspende zustimmen, wenn sie im Krankenhaus gefragt werden. Das konnte ich gar nicht glauben, denn nur fünfundzwanzig Prozent aller Deutschen haben einen Organspendeausweis.«
»Und was sagt uns das jetzt?«, fragte Paul.
»Hirntote werden so oft zu Spendern, weil die Angehörigen von den Ärzten schlicht und ergreifend überredet werden. Den Hinterbliebenen, die sowieso noch unter Schock stehen und zu so einer Entscheidung in dem Augenblick gar nicht in der Lage sind, wird dann was von moralischer Verpflichtung erzählt und was weiß ich noch alles.«
»Aber warum gibt es in der Humboldt-Klinik so viele Hirntote? Das ist doch merkwürdig.«
»Das hab ich mich auch gefragt und mich informiert. Es sieht wohl so aus, dass Patienten, bei denen der Verdacht besteht, dass sie hirntot sind, von zwei unabhängigen Ärzten untersucht werden, die gegebenenfalls den Hirntod diagnostizieren. Dafür gibt es eine genaue Vorgehensweise, die von der Bundesärztekammer festgelegt ist. Interessant ist, dass die untersuchenden Ärzte nicht an der Transplantation beteiligt sein dürfen und keinem Transplantationschirurgen unterstehen.«
»Unterstehen nicht alle Ärzte in der Klinik dem Wellner?«
»Eigentlich schon.« Dieter schob seine Brille auf dem Nasenrücken nach oben. »Ich habe nachgesehen, wer diese Untersuchungen in der Regel macht. Und es sind immer die gleichen Ärzte: Dr. Beate Kunze, Neurologin, und Dr. Katharina Kleinbeck, Intensivmedizinerin. Ich habe mit beiden gesprochen. Sie erklären die Anzahl der Hirntoten damit, dass in der Klinik viele Bluthochdruckpatienten behandelt werden. Die meisten Hirntoten sterben an Hirnblutungen, Schlaganfällen und so was. Das hörte sich alles ganz logisch an, aber dann habe ich sie mit gleichartigen Kliniken verglichen. Und siehe da, die hatten komischerweise nur zwei bis drei Hirntote im Jahr.«
»Das stinkt doch zum Himmel!« rief Martin.
»Wenn die Ärzte sich einig sind, können sie jedem im Koma liegenden Patienten den Hirntod bescheinigen«, überlegte Michael. »Wer kontrolliert das? Im Nachhinein lässt sich ein Fehler mit oder ohne Absicht nicht beweisen. Keiner von denen kann zur Rechenschaft gezogen werden.«
»Stell dir mal vor, du liegst da, kannst dich nicht wehren und wirst für hirntot erklärt, obwohl du noch gar nicht richtig tot bist!«, ereiferte sich auch Paul.
»Das nennt man dann Mord!«
»Und bevor du dich versiehst, wirst du ausgeschlachtet, damit andere in den Genuss deiner Organe kommen.«
Bei dem Wort »Genuss« musste Martin wieder an die Nierenspieße denken und Ekel überkam ihn. Schnell versuchte er, das Bild vor seinem inneren Auge zu verdrängen.
»O.k., o.k.!« Martin rutschte vom Schreibtisch. »Ich denke wie ihr, aber das ist eine Sache, die wir nie beweisen können, solange nicht einer auspackt. Vielleicht ist es auch tatsächlich Zufall.«
»Das glaubst du doch wohl selber nicht.«
»Nein, natürlich nicht. Das passt viel zu gut zu dem Bild, das ich vom Wellner habe.«
»Wir sollten diese Ärztinnen, die den Hirntod diagnostizieren, mal in die Mangel nehmen«, schlug Paul vor.
»Das können wir gerne machen, wenn wir irgendwann Zeit übrig haben, denn das ist sicher ein Fall für sich«, sagte Martin und ging hinüber zu der Wand, an der Zettel und Fotos als Informationen zu den Fällen aufgehängt waren. Er betrachtete die Bilder von Anja Schulte
Weitere Kostenlose Bücher