Innere Werte
dem Lesen begann, rief er Tobias an und teilte ihm mit, dass Katrin Buhr ein weiteres Tagebuch in Bremen gefunden hatte.
»Sie hat mir gar nichts davon erzählt«, wunderte sich Tobias.
»Wir werden es lesen müssen«, sagte Martin. »Aber dann bekommst du es.«
»Ich weiß gar nicht, ob ich es haben will. Wer weiß, was da wieder alles drinsteht. Das erste Buch hat mir schon gereicht.«
»Dieses Ferienhaus, habt ihr das schon lange?«
»Ja, schon als ich Kind war. Früher waren wir auch regelmäßig da, aber seit ich einen Unfall in Bremen hatte, wollte ich nicht wieder hin. Meine Mutter ist dann immer alleine zweimal im Jahr hochgefahren.«
»O.k., Tobias, ich melde mich bei dir.«
»Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, dass ich Ihnen nicht gesagt habe, wo Katrin war. Ich wollte sie schützen, weil ich ihr glaube, dass sie nichts mit den Morden zu tun hat. Sie tat mir leid und außerdem …«, er stockte, »außerdem hab ich mich ein bisschen in sie verliebt.«
Martin lächelte traurig und verschwieg ihm, dass Katrin zurzeit ihre Verdächtige Nummer eins war.
Martin schlug das Tagebuch auf und begann zu lesen. Beim Umblättern fiel ein loses Blatt heraus und segelte zu Boden. Martin hob es auf und stellte fest, dass es aufgrund des Datums eine Seite aus dem anderen Tagebuch sein musste.
Heute kam das Ergebnis der Untersuchung zum Abgleich unserer Gewebeproben. Meine Niere passt tatsächlich. Wie gut, dass Tobi das nicht weiß. Ich werde es ihm auch nicht sagen, im Gegenteil. Ich lasse mich doch nicht einfach aufschneiden und ausnehmen wie eine Weihnachtsgans. Er ist jung und wird über Eurotransplant sicher bald eine reguläre Spenderniere bekommen. Ich hoffe es sehr und werde ihm während der Dialyse beistehen. Immerhin ist er mein Sohn und ich bin für ihn verantwortlich.
Martin ließ den Zettel auf den Schreibtisch sinken und starrte darauf. Dieses Geständnis einer Mutter, die ihrem Sohn nicht helfen wollte, obwohl sie es konnte, ließ Martin erschauern. Und erneut fragte er sich, was für eine kalte, berechnende Frau Anja Schulte gewesen war.
Warum hatte sie diese Seite aus dem zweiten Tagebuch gerissen und sie in diesen Band gelegt?
Martin ging in den Flur, um sich einen Kaffee zu holen. Dort traf er auf Dieter, der ihm sofort berichtete, dass der Tankbeleg aus Bremen nicht unbedingt ein Beweis für Katrin Buhrs Anwesenheit dort sein musste. Die Rechnung war zwar mit Karte bezahlt worden, aber die Quittung nicht unterschrieben. Streng genommen hätte jeder mit ihrer Karte bezahlen können, während sie selbst an einem anderen Ort war. Martin nahm die Information zur Kenntnis, doch mit seinen Gedanken war er ganz woanders.
»Du bist der Einzige von uns, der Kinder hat«, sagte er zu Dieter. »Wenn eines von ihnen eine Niere bräuchte, würdest du deine eigene spenden, wenn das passen würde?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Das dachte ich mir.«
»Ich glaube aber, dass es nicht unbedingt etwas Besonderes ist, wenn Eltern das nicht tun wollen. Es gibt sicher viele, die Angst haben oder kein so gutes Verhältnis zu ihren Kids. Dann ist das sicher nicht verwerflich.«
»Das finde ich schon!« Damit verschwand Martin wieder in seinem Zimmer.
Eine Seite nach der anderen las er. Zumeist waren es Beschreibungen von Bankgeschäften, diesmal auch sehr private Eintragungen zu ihrem Liebesleben und natürlich die Aufzählung der Nierenspender, die sie um den Finger gewickelt hatte. Tatsächlich fanden sich, im Gegensatz zum ersten Tagebuch, auch Namen. Steffen und Theo wurden erwähnt. Delia Wolff hingegen nicht.
Plötzlich, als Martin an eine Eintragung kam, die Anja Schulte vor etwa sechs Jahren geschrieben hatte, setzte er sich kerzengerade hin, konzentrierte sich auf jede Zeile und glaubte, in einem Roman statt in einem Tagebuch zu lesen. Mit jedem weiteren Wort kroch ihm die Gänsehaut wie eine Welle über den ganzen Körper. Zunächst beschrieb sie den Unfall, von dem Tobias vorhin gesprochen hatte. Da musste er wohl fünfzehn Jahre alt gewesen sein, überlegte Martin. Es handelte sich um einen Autounfall, bei dem der Junge sich als Beifahrer ein Schleudertrauma zugezogen hatte. Außerdem bestand der Verdacht auf innere Verletzungen. Als Tobias’ Zustand stabil war, überführte seine Mutter ihn zurück nach Wiesbaden in die Humboldt-Klinik.
7.5.: Steffen hat festgestellt, dass Tobi doch keine inneren Verletzungen hat. Gott sei Dank! Es geht ihm recht gut, bis auf die
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