Innere Werte
Siedlung Klarenthal – im Nordwesten von Wiesbaden an den Hängen des Taunus und mit Blick auf die Wiesbadener Innenstadt gelegen – wurde auch als »Das grüne Tor nach Wiesbaden« bezeichnet. Man hatte sie in den Sechzigerjahren zwischen der Bahnlinie nach Bad Schwalbach und der Klarenthaler Straße praktisch aus dem Boden gestampft und nach dem ehemaligen Kloster Klarenthal benannt. Mittlerweile war daraus eine hochverdichtete Großsiedlung geworden, in der gut zehntausend Einwohner lebten, zumeist mit geringem Einkommen und in einer der vielen Sozialwohnungen. Schon von Weitem konnte man die Siedlung an ihren großen Mehrfamilien- und Wohnhochhäusern erkennen. Daneben gab es viele Reihenhäuser und viel Grün. Leider hatte sich Klarenthal im Lauf der Jahre zum sozialen Brennpunkt entwickelt und sich damit ein ausgeprägtes Negativ-Image erworben.
Als Martin an einem der Hochhäuser vorüberfuhr, sagte Dieter: »Wusstet ihr, dass es in dem Haus einen Concierge-Dienst gibt?«
»Ja«, antwortet Martin. »Ich habe davon gehört. Das ist eines dieser sozialen Projekte, die sie in den letzten Jahren hier gestartet haben.«
»Richtig. Es ist sozusagen ein Modell für Wiesbaden und das Rhein-Main-Gebiet.«
»Meint ihr, das bringt was?«, fragte Paul skeptisch.
»Ich glaube schon. Und zusammen mit den anderen Projekten mildert es auf jeden Fall die sozialen Risiken ab.«
»Trotzdem hat das dritte Revier hier immer noch gut zu tun.«
»Sicher, aber seit die Mitarbeiter des Freiwilligen Polizeidienstes ehrenamtlich an gewissen Brennpunkten Streife laufen, ist die Kriminalität gesunken. Ich hab mir gerade neulich die Statistiken angesehen.«
»Dann hast du auch sicher gesehen, dass die Mordfälle zugenommen haben. Acht mehr als im letzten Jahr«, konterte Paul.
»Aber mit einer Aufklärungsrate von über neunzig Prozent«, mischte sich Martin in die Diskussion ein und beendete sie auch sogleich mit den Worten: »Wir sind da.«
Zur Linken wurde die Straße von Bäumen gesäumt. Man konnte sich vorstellen, dass die Gegend freundlicher wirkte, wenn sie belaubt und grün waren. Jetzt sah alles kahl und trostlos aus. Zur Rechten ragten vier große Wohnblocks in die Höhe. Martin suchte die Hausnummer sieben und fand sie am letzten Haus, bevor die Straße eine Kurve nach links machte. Er parkte den Wagen gegenüber dem neunstöckigen Gebäude. Hier hatte Peter Bielmann also gewohnt. Der Kommissar betrachtete das Haus. Die Fassade war mit einem orange gestrichenen Glattputz versehen, farblich unterbrochen von den Waschbetonverkleidungen an den Balkonen. Es sah aus wie ein Plattenbau, wirkte aber nicht so heruntergekommen wie Martin angenommen hatte. Er war lange nicht in dieser Gegend gewesen. Offenbar hatte man in den letzten Jahren die Häuser dieses Viertels saniert und versucht, die architektonischen Sündenfälle aus den Sechzigern zu korrigieren.
In der Straße war nicht viel los. Zwei Katzen jagten hintereinander her und eine Frau schob einen Kinderwagen, während sie ihr Handy am Ohr hatte. Die Beamten überquerten die Straße, als ein junger Mann aus der Haustür kam, Zigarette in der einen und Autoschlüssel in der anderen Hand. Er betätigte die Fernbedienung eines silbernen Mercedes. Als der Mann kurz darauf den Motor startete, sagte Paul: »Habt ihr das gesehen? Der Typ fährt einen Mercedes. Und das war nicht gerade ein altes Model.«
»Ein C-Klasse-Mercedes«, bestätigte Dieter.
»Wie kann einer, der hier wohnt, so einen Wagen fahren? Das geht mir nicht in den Kopf.«
»Vielleicht wohnt er gar nicht hier«, bemerkte der Kollege von der Spurensicherung.
»Selbst wenn er hier nicht wohnt. Der sah nicht gerade aus wie ein gut verdienender und gebildeter Kerl. Wahrscheinlich lebt er von Hartz IV«, spekulierte Paul weiter. »Um die Zeit wäre er sonst wohl auf der Arbeit.«
»Hör auf, dir den Kopf über Leute zu zerbrechen, die du nicht kennst und die für uns keine Rolle spielen«, beendete Martin das Gespräch. »Und von Vorurteilen solltest du dich am besten sofort verabschieden. Du bist Polizist. Für Klischees hast du keine Zeit. Lasst uns lieber Nachbarn suchen, die uns was zu unserem Opfer sagen können.«
Vergeblich suchten sie den Namen Bielmann auf einem der achtzehn Klingelschilder.
»Vielleicht hat er mit irgendjemandem zusammengewohnt«, vermutete Dieter.
Martin drückte den untersten Klingelknopf. Ein Summen signalisierte das Öffnen der Tür und alle vier traten ein. Eine
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