Innere Werte
es sagst, eigentlich schon.« Dieter sah nachdenklich aus.
»Er hat bestimmt privaten Stress mit seiner Freundin«, mutmaßte Michael.
»Er hat eine Freundin?« Das war Martin völlig neu. »Warum weiß ich das nicht?«
Michael lachte. »Du redest gerade wie ein Vater, der nicht über das Liebesleben seines Kindes informiert wurde.«
»Ja, du hast recht. Geht mich ja auch nichts an. Lassen wir das Thema jetzt.« Er griff zum Telefon. »Ihr könnt eigentlich Feierabend machen. Paul kann sich um die Presse kümmern und ich frag mal bei Stieber nach, was der Obduktionsbericht macht.«
»Alles klar! Wir sehen uns dann morgen.« Dieter und Michael schnappten sich ihre Jacken und waren verschwunden.
Wie sich herausstellte, sollte die vorgesehene Pressemeldung wegen des Wochenendes erst am Montag erscheinen. So war es kein großes Problem, den Text noch zu ändern und das Bild hinzuzufügen. Das war wenigstens etwas Positives nach dem unbefriedigenden Ausflug in die Siedlung Klarenthal. Trotzdem machte sich bei Martin ein wenig Unzufriedenheit breit, denn seine Hoffnung, heute mit den Ermittlungen weiterzukommen, war zunichte gemacht, weil Peter Bielmann sich nicht ordnungsgemäß umgemeldet hatte. Möglicherweise war er obdachlos? In dem Fall könnte es ewig dauern, bis sie etwas herausfinden würden, wenn überhaupt. Aber daran wollte er noch gar nicht denken. Er hoffte sehr, durch den Zeitungsbericht mehr über den Toten zu erfahren als lediglich seinen Namen.
Martin ließ auch Paul nach Hause gehen und fuhr selbst in die Rechtsmedizin. Dr. Stieber hatte die Obduktion beendet und der Bericht wurde gerade getippt.
8
Langsam wurde es draußen dunkel und Katrin machte sich auf den Weg zur Polizei. Hoffentlich hatte sie jetzt lange genug gewartet und so die Kriterien, um eine Vermisstenanzeige aufzunehmen, erfüllt. Die letzten Stunden waren nur so dahingeschlichen. So oft wie heute hatte sie noch nie in ihrem Leben auf die Uhr gesehen. Zum ersten Mal konnte sie sich vorstellen, wie es sein musste, verrückt zu werden. Diese Ungewissheit war nicht auszuhalten. Nichts, aber auch gar nichts hatte sie in den letzten Stunden erreicht. Ob sie wollte oder nicht, sie musste ihre Hoffnung in die Polizei setzen. Vielleicht würden sie ja diesmal alle Mittel ausschöpfen und doch helfen? Ernsthaft konnte sie allerdings nicht daran glauben. Vor fünfzehn Jahren war es ihnen auch egal gewesen, ob ein Mann seine Frau verprügelte und sein Kind schlug. Sie waren sich selbst überlassen gewesen. Damals, in Hannover, wo sie aufgewachsen war. Ihre Mutter starb an einer Hirnblutung, nachdem ihr jähzorniger Mann sie mal wieder gestoßen hatte, so dass sie mit dem Kopf auf die Tischkante geknallt war. Die Polizei hatte der dreizehnjährigen Tochter nicht geglaubt und ihrem Vater die gespielte Trauer und die Lüge vom Ausrutschen auf dem Küchenboden abgekauft. Kein Wunder, die schmierige Spülmittelspur, die er den Beamten präsentiert hatte, war ihm nachträglich gut gelungen. Die Polizei hatte keine Nachforschungen angestellt, sonst hätten sie sicher Zeugen gefunden, die von der Brutalität ihres Vaters wussten. Sie hatten ihn laufen lassen, damit er sie, Katrin, noch fünf weitere Jahre quälte. Mit achtzehn hatte sie ihre Sachen gepackt und war abgehauen. Durch einen Freund war sie in Wiesbaden gelandet, hatte dort eine Ausbildung zur Floristin gemacht und anschließend die Anstellung in Nieder-Olm gefunden. Und jetzt war sie endlich glücklich gewesen. Was war nur passiert? Tränen liefen ihr über die Wangen und verschleierten ihren Blick, dass sie kaum mehr die Straße erkennen konnte.
Währenddessen saß Martin zu Hause in seinem Arbeitszimmer und hielt den Obduktionsbericht in den Händen. Dr. Stieber hatte wie immer zuverlässig und schnell gearbeitet. Was für eine beschissene Arbeit muss das gewesen sein, dachte Martin, als er die beigelegten Fotos kurz betrachtete. Schnell legte er sie zur Seite. Das musste man sich nicht länger als nötig ansehen.
Dr. Stieber schrieb, dass es sich bei dem Toten um einen dreißig- bis vierzigjährigen Mann handelte, der zu Lebzeiten etwa ein Meter achtzig groß gewesen sein musste. Dass der Arzt mit diesen Aussagen richtig lag, wusste Martin durch die Angaben des Einwohnermeldeamtes inzwischen genau. Er las weiter, dass nicht alle Teile des Oberkörpers auffindbar gewesen waren, da Etliches die Rechengutpresse schon durchlaufen hatte. Was für eine grauenhafte Vorstellung!
Weitere Kostenlose Bücher