Innere Werte
würde.«
»Alkohol als Narkotikum«, murmelte Paul.
»Richtig. Und ab einem gewissen Alkoholpegel sind, wie wir alle wissen, auch die geistigen Funktionen eingeschränkt, die uns dazu bewegen würden, etwas gegen die Kälte zu tun.«
»Sie meinen also, dass Frau Schulte so viel getrunken hat, dass sie sich vor lauter Hitzewallung ausgezogen hat?« Ungläubig sah Martin den Rechtsmediziner an.
»Genau! Um der Hitze zu entgehen, die sie sich einbildet, reißt sie sich die Kleidung vom Leib, bevor sie das Bewusstsein verliert. Der Fall ist, wie Sie sehen, gar nicht so mysteriös, wie er auf den ersten Blick scheint.«
»Was es alles gibt«, sagte Paul erstaunt.
»Und wissen Sie, was das Perverse an der ganzen Sache ist und was mir gewaltig stinkt?« Dr. Stieber erwartete keine Antwort und sprach sofort weiter. »Dass wir als Mediziner oder Rechtsmediziner unser Wissen über den Erfrierungstod nur haben, weil KZ-Ärzte in den Konzentrationslagern Menschenversuche gemacht haben. Das muss man sich mal vorstellen.« Er riss beide Arme in die Höhe, als wollte er selbst nicht glauben, was er da erzählte. »Vor allem in Dachau und Auschwitz haben die Nazis, auf Befehl von diesem verrückten Himmler, medizinische Experimente mit den Gefangenen gemacht. Und warum? Rettungsanzüge für Soldaten wollte man entwickeln, um sie vor extremen Temperaturen zu schützen. Die Forschung an Tieren hat da nicht ausgereicht.« Stieber redete sich in Rage und gestikulierte mit den Händen. »Wie praktisch waren da die KZ-Häftlinge. Stellen Sie sich vor, man hat sie nackt in Eiswasser schwimmen lassen. Dabei wurden Rektaltemperatur und Herzfunktion gemessen. Andere wurden im Winter nackt an den Boden gefesselt und immer wieder mit kaltem Wasser übergossen, oder mit kaltem und kochendem im Wechsel. Wegen der Schmerzensschreie musste man irgendwann dazu übergehen, die Opfer zu betäuben, damit man sie nicht außerhalb der Lager hörte. Und vor Kindern haben sie auch nicht Halt gemacht. Das mag man sich alles gar nicht vorstellen.«
»Was für Sadisten!« Paul schüttelte schockiert den Kopf.
»Das können Sie laut sagen. Aber Hitler war ja der Ansicht, dass Menschenversuche, wenn sie dem Wohl des Staates dienen, zu tolerieren seien.«
»Da packt einen im Nachhinein noch die Wut«, sagte Martin.
»Ja, immer wieder. Wie gesagt, die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die dabei gewonnen wurden, sind heute Grundlage unseres Wissens. An diesen Sadismus wird man dann immer wieder erinnert, wenn die Todesursache Unterkühlung ist.«
Wenig später waren Paul und Martin auf dem Weg ins Präsidium. Neben Martin saß ein sehr schweigsamer Paul, der das eben Gehörte erst einmal verdauen musste. Martin dagegen dachte an Milster. Sein Chef hatte schon recht. Ein Selbstmord schien den Indizien nach wahrscheinlich zu sein, mit der Erklärung von Stieber erst recht. Aber auch ein Selbstmord brauchte ein Motiv. Bevor Martin das nicht hatte, würde er keine Ruhe geben. Nicht nur, weil er es gewohnt war, polizeiliches Licht ins kriminelle Dunkel zu bringen, sondern, weil er das Gefühl hatte, es Tobias schuldig zu sein. Der Junge tat ihm leid. Im Grunde war er jetzt ziemlich allein auf der Welt. Ob er wohl eine Freundin hatte? Beim nächsten Mal würde er ihn danach fragen.
33
Dr. Steffen Wellner saß seiner Frau Susanne am Esstisch gegenüber. Als sein Handy klingelte, warf er einen Blick auf das Display.
»Das Krankenhaus«, sagte er erklärend und stand auf, um im Nebenraum ungestört telefonieren zu können.
Kaum hatte er sich gemeldet, rief ihm eine aufgeregte Stimme entgegen: »Sie ist tot. Anja Schulte ist tot.«
»Delia, jetzt beruhige dich doch.«
»Wie soll ich mich denn da beruhigen? Steffen, sie ist tot!«
»Wo bist du?«
»Zu Hause.«
»Ich komme«, sagte er knapp und drückte das Gespräch weg.
Seine Frau war hinter ihn getreten. »Gibt’s Ärger?«
»Wie immer, wenn das Ding klingelt.«
Forschend sah Susanne zu ihrem Mann auf, der sie um mindestens einen Kopf überragte. Seine blonden, kurzen Haare mit den Geheimratsecken an der hohen Stirn waren sauber nach hinten gekämmt. Seine kleinen, blauen Augen, die spitze Nase und das Grübchen am Kinn verliehen ihm ein ernstes Aussehen.
»Ich muss los«, sagte er, schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln, in dem keine Wärme lag, und verließ den Raum.
Susanne stand am Fenster und blickte ihm traurig hinterher, als er in seinem schwarzen Jaguar davonbrauste. Sie wandte
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