Innere Werte
geblieben bin. Aber mit ihr zu frühstücken, ist echt anstrengend. Sie verbraucht ihre achtzigtausend Wörter schon bevor ich die erste Tasse Kaffee ausgetrunken habe.«
»Deshalb das Maldaner?«, fragte Martin.
»Genau deshalb.« Er verzog den Mund zu einem müden Lächeln und trank seinen letzen Schluck Kaffee. »Aber ich weiß schon, worauf du eigentlich hinaus willst. Und wahrscheinlich hast du recht mit der Einschätzung, dass mir alles zu viel ist. Ich weiß nur nicht, warum. Ich bin dauernd schlecht gelaunt. Vielleicht liegt das an dem Gefühl, dass ich es irgendwie niemandem recht machen kann.«
»Sind dir vielleicht die ganzen Toten zu viel? Das Morddezernat liegt nicht jedem, und das ist weiß Gott keine Schande. Es ist dann nur gut, sich das rechtzeitig einzugestehen.«
»Nein, das ist es nicht!« Fast erschrocken sah Paul seinen Chef an. »Das K11 ist genau mein Ding. Ich möchte nirgendwo anders hin.«
»Dann solltest du darüber nachdenken, ob Nicole die richtige Frau für dich ist.«
Die Männer schwiegen eine Weile.
»Du hast wohl den Nagel auf den Kopf getroffen«, gab Paul kleinlaut zu. »Nicole stresst mich nicht nur beim Frühstück. Sie setzt mich irgendwie ganz schön unter Druck. Sie vereinnahmt mich total. Ich soll weniger Radfahren und ordentlicher werden«, ereiferte sich Paul. »Sie selbst hat den totalen Putzfimmel. Und wenn sie dann noch sauer auf mich ist, ist kein Staubkorn mehr vor ihr sicher. Meine Freizeit verplant sie, wie sie will, und das ärgert mich am meisten.«
»Hast du ihr das nicht mal gesagt?«
»Doch, schon.« Das hörte sich nicht sehr überzeugend an.
»Man muss über alles miteinander reden, sonst ist das der Anfang vom Ende.«
Paul seufzte. »Ich glaub, am liebsten würde sie heiraten.«
»Ich kann dir nur einen Tipp geben: Heirate nie eine Frau, an der dir schon vorher einiges nicht passt. Wenn du nur den geringsten Zweifel daran hast, dass sie die Richtige ist, lass die Finger davon. Das Leben ist zu kurz, um es mit Dingen, Berufen oder Menschen zu vergeuden, die einen nicht glücklich machen. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Ich könnte dir noch einiges dazu sagen, aber du bist ein schlaues Kerlchen, und ich glaube, du weißt, was ich meine. Hör einfach mal in dich rein. Und dann ändere das, was nicht richtig läuft.«
Paul starrte vor sich auf die Tischplatte und sah dabei ein bisschen zerknirscht aus.
Vielleicht, dachte Martin, hätte ich nicht so deutlich sein sollen. »Paul«, fügte er fast entschuldigend hinzu, »ich will einfach, dass du es besser machst als ich, o.k.?«
Paul erwiderte Martins Blick und lächelte. »Hört sich an, als wärst du nicht besonders stolz auf deine zwei geschiedenen Ehen.«
»Witzbold!« Martin erhob sich und klopfte Paul gegen die Schulter. »Wir müssen los.«
Paul folgte seinem Chef und bevor er sich durch die Drehtür schob, sagte er: »Danke, Martin!« Der nickte nur.
Wenig später saßen sie im Wagen und kämpften sich durch das morgendliche Chaos, das heute auf schneeglatten Straßen noch größer war als sonst.
»Ich habe über ihre Waldfee nachgedacht«, sagte Dr. Stieber, während er Paul und Martin in sein Büro bat. »Dass sie nackt war, ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Und das war gut so, denn dadurch habe ich mich an einen Fall erinnert, den ich während meiner ersten Jahre als Rechtsmediziner hatte.«
Gespannt warteten die beiden Polizisten, dass Dr. Stieber weitersprach.
»Damals hatten wir auch einen Toten auf dem Tisch, der keine Zeichen von todesursächlicher Gewalteinwirkung aufwies. Und er wurde ebenfalls im Winter nackt draußen gefunden. Es war ziemlich klar, dass er erfroren war. Und die Möglichkeit, dass er bei den Temperaturen eine lauschige Liebesnacht im Freien verbracht haben könnte, wurde als zu weit hergeholt sofort verworfen.«
»Sie haben herausgefunden, warum er nackt war?«
»Ich denke schon.« Stieber machte eine Pause und faltete die Hände vor dem Bauch. »Es gibt ein Phänomen das nennt sich Kälteidiotie . Manche nennen es auch paradoxes Entkleiden .«
»Nie gehört«, sagte Martin.
»Ich erkläre es Ihnen. Sie wissen sicher, dass sich die Poren der Haut durch den Genuss von Alkohol erweitern. Als Folge davon steigert der Körper die Hautdurchblutung. Der Betreffende spürt Wärme, die gar nicht vorhanden ist. Das Temperaturempfinden ist gestört. Zusätzlich nimmt der Alkohol den Schmerz, den ein nüchterner Mensch durch die Kälte spüren
Weitere Kostenlose Bücher