Innerste Sphaere
»Du hättest hören sollen, was ich an dem Abend zu ihr gesagt habe. Was ist, wenn ich sie dazu getrieben habe?«
Diane schüttelte den Kopf und machte missbilligende Geräusche. »Glaubst du, Nadia würde sich wünschen, dass du dich so fühlst? Das Mädel war die Güte in Person. Wenn sie sich doch selbst so geliebt hätte wie alle anderen. Sie hat auf dieser Welt – und bei dir – bleibende Spuren hinterlassen. Als du vor einem Jahr zu mir gekommen bist, hatte ich Angst, dass du gleich wieder im Gefängnis landest. Und jetzt, bitte schön, gehst du aufs College!«
Das stimmte, Nadia war der Grund, warum es für mich eine Zukunft gab. Und was hatte ich für sie getan? Sie hatte gesagt, dass sie durch mich Bodenhaftung bekam, dass ich diejenige war, die hinter die Fassade guckte. Dass sie mich brauchte, weil ich echt war. Stark. Lustig.
Gut.
Allmählich hatte ich angefangen zu glauben, was sie über mich sagte, zu glauben, dass ich ihr etwas zurückgeben könnte für alles, was sie mir gab. Dann hatte ich sie genau in dem Moment verlassen, als sie mich am meisten brauchte.
Ich drückte die Hand auf den Verband und spürte, wie sich der Schmerz in meinem ganzen Körper ausbreitete. Ich verdiente, dass es wehtat. Panik packte mich, als plötzlich die dunkle Stadt vor meinen Augen auftauchte. Da zog ich die Hand von dem Tattoo zurück, als hätte ich mich verbrannt, und die wirkliche Welt war wieder da.
Diane reichte mir einen Teller. »Willst du beim Essen drüber reden?«
Mein Gott, nein.
»Tut mir leid, Diane. Das Essen sieht toll aus, aber ich mache noch Hausaufgaben und geh dann ins Bett.«
Sie lächelte mich traurig an. »Ich bin da, wenn du mich brauchst, Schatz.«
Ich ging in mein Zimmer und breitete meine Fotos von Nadia auf dem Boden aus. Auf fast allen hatte sie dieses Lächeln, das zusagen schien »Ich regiere die Welt«. Ich blätterte in den Schnappschüssen und überlegte, warum jemand, der so selbstbewusst, so lebendig war, sich selbst verletzen wollte. Dann entdeckte ich ein Foto, das ich gemacht hatte, als wir auf der Tribüne saßen und den Jungs beim Baseballtraining zusahen.
Auf dem Bild starrte sie mit trübem Blick ins Leere. Das war das Gesicht eines Menschen, der es fertigbrachte, das Mehrfache einer tödlichen Dosis zu schlucken. Das war das Gesicht auf meinem Arm. So sah sie aus, wenn sie glaubte, dass niemand hinsah. Erst hatte ich gedacht, es wäre Zufall. Auf keinem anderen der ausgedruckten Bilder sah man eine Spur von dieser traurigen, verzweifelten Nadia. Aber dann fielen mir andere Fotos auf meiner Kamera ein, diejenigen, die ich nicht ausgedruckt hatte. Klar – viele waren es nicht, aber es gab sie, und sie reichten bis in den letzten Sommer zurück. Bilder von Nadia in ihren aufrichtigen Momenten, zu abgelenkt oder erschöpft, um dieses atemberaubende Lächeln aufzusetzen.
Tränen verschleierten meinen Blick. Wie hatte ich nur zulassen können, dass sie sich davonmachte? Ich sammelte sämtliche Fotos ein, die schönsten Augenblicke meines Lebens mit der einzigen Freundin, die ich je gehabt hatte, trug sie in den Garten hinter dem Haus und machte auf Dianes kleinem Holzkohlengrill ein Feuer.
4
Die Flammen leckten an den Kanten der Bilder und verschlangen dann hungrig Nadias gespieltes Lächeln. Ich atmete den bitteren Rauch ein. Meine Augen tränten, als das letzte Foto von ihrem Gesicht Feuer fing. »Bist du wirklich da, Nadia? Oder bin ich verrückt?«
Kaum war das Bild verschwunden, vermisste ich sie schon. Ich pulte den Verband ab und sah ihr Gesicht auf meinem schmerzenden Arm. Ihre Augen packten mich, gaben mir das Gefühl zu fallen. Ein schauriges Kribbeln raste meine Beine hoch und ich keuchte. Die Ziegel der Veranda verwandelten sich in Kopfsteinpflaster. Dianes Hängepflanzen reckten ihre Ranken empor und wurden zu Gaslaternen, die an dicken Pfosten baumelten und ein grünliches Licht verbreiteten. Nadias Arme pumpten, als sie vor mir die holprige Straße entlangrannte, die auf beiden Seiten von Hochhäusern gesäumt wurde.
Ich war bei Nadia. Ich
war
Nadia. Irgendwie war ich in ihrem Kopf, sah alles durch ihre Augen, während sie durch die dunkle Stadt hetzte. Mein Magen zog sich vor Angst zusammen. Ihr Herz –
mein
Herz – schlug heftig und mir wurde klar, dass ich nicht mehr in Dianes Garten war. Womöglich jagte wieder etwas hinter uns – hinter ihr – her? Diese bestialische Alte, die versucht hatte, Nadia zu entführen?
Ich spürte
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