Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
INRI

INRI

Titel: INRI Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
Vom Netzwerk:
konnte.
    Einmal hatten römische Legionäre angehalten und ihn barsch, aber nicht unfreundlich gefragt, ob er Verwandte habe, zu denen sie ihn bringen könnten. Sie hatten ihn in gebrochenem Aramäisch angesprochen und waren überrascht gewesen, als er ihnen in einem merkwürdig ausgesprochenen, aber reineren Latein geantwortet hatte, als sie selbst sprachen.
    Sie fragten ihn, ob er ein Rabbiner oder ein Gelehrter sei. Er sagte ihnen, er sei weder das eine noch das andere.
    Der Offizier der Legionäre hatte ihm etwas Dörrfleisch und Wein angeboten. Er hatte das Fleisch gegessen und um Wasser gebeten. Sie gaben es ihm.
    Die Männer gehörten zu einer Patrouille, die einmal im Monat auf dieser Strecke vorbeikam. Sie waren kräftig gebaute, braungebrannte Männer mit harten, glattrasierten Gesichtern. Sie trugen gefärbte Lederröcke, Brustpanzer und Sandalen, auf dem Kopf eiserne Helme und an den Hüften Kurzschwerter, die in einer Scheide steckten.
    Selbst als sie ihn so im Licht der späten Abendsonne umstanden, wirkten sie nicht entspannt. Der Offizier, der sich nicht so laut benahm wie seine Männer, ihnen aber sonst sehr ähnlich war, nur daß er einen Brustpanzer aus Metall, einen langen Mantel und einen Federbusch am Helm trug, fragte den Verrückten nach seinem Namen.
    Für einen Augenblick hatte der Verrückte dagestanden und den Mund auf- und zugemacht, als könnte er sich nicht erinnern, wie er genannt wurde.
    »Karl«, sagte er endlich, etwas unsicher. Es war mehr ein Vorschlag als eine Aussage.
    »Klingt fast wie ein römischer Name«, sagte einer der Legionäre.
    »Oder vielleicht ein griechischer«, sagte ein anderer. »Es gibt viele Griechen in dieser Gegend.«
    »Bist du ein römischer Bürger?« fragte der Offizier.
    Aber der Geist des Verrückten war offensichtlich abgeschweift. Er wandte sich von ihm ab und murmelte vor sich hin.
    Auf einmal drehte er sich wieder zu ihnen um und sagte: »Nazareth. Wo ist Nazareth?«
    »In dieser Richtung.« Der Offizier zeigte auf die Straße, die sich zwischen den Bergen durchwand.
    Der Verrückte nickte befriedigt.
    »Karl… Karl… Carlus… ich weiß nicht…« Der Offizier streckte den Arm aus, packte den Verrückten am Kinn und sah ihm in die Augen. »Bist du ein Jude?«
    Darüber schien der Verrückte erschrocken zu sein.
    Er sprang auf und versuchte den Kreis der Soldaten zu durchbrechen. Sie ließen ihn durch und lachten. Er war ein harmloser Verrückter.
    Sie sahen ihm nach, als er davonrannte.
    »Vielleicht einer ihrer Propheten«, sagte der Offizier und ging zu seinem Pferd. In diesem Land wimmelte es von Propheten. Jeder zweite Mann, dem man begegnete, behauptete, die Lehre ihres Gottes zu verkünden. Sie machten keinen Ärger; die Religion schien sogar ihre Gedanken von Rebellionen abzulenken.
    Wir müßten ihnen dankbar sein, dachte der Offizier.
    Seine Männer lachten immer noch.
    Sie marschierten davon, in die entgegengesetzte Richtung zu der, die der Verrückte eingeschlagen hatte.
    Später gesellte er sich zu einer Gruppe von Menschen, die genauso abgemagert waren wie er. Sie befanden sich auf einem obskuren Pilgerzug zu einer Stadt, von der er noch nie etwas gehört hatte. Ihre Sekte forderte wie die Essener strikte Rückkehr zum Mosaischen Gesetz, aber in anderen Dingen blieben sie vage, bis auf die Idee, daß Gott ihnen König David schicken würde, um ihnen bei der Vertreibung der Römer und der Eroberung Ägyptens zu helfen - ein Land, das sie irgendwie mit Rom und mit Babylon identifizierten.
    Sie behandelten ihn wie ihresgleichen.
    Er wanderte mehrere Tage mit ihnen. Dann kamen eines Abends, als sie sich neben der Straße gelagert hatten, etwa ein Dutzend Reiter in Rüstungen und Uniformen, viel prächtiger als die der Römer, angaloppiert, stießen die Kochkessel um und ritten durch die Feuer.
    »Die Soldaten Herodes'!« schrie einer von der Sekte.
    Weiber kreischten, und Männer rannten in die Nacht hinaus. Bald waren alle bis auf zwei Frauen und den Verrückten verschwunden.
    Der Anführer der Soldaten hatte ein dunkles, schönes Gesicht und einen dichten, geölten Bart. Er riß den Verrückten an den Haaren hoch und spuckte ihm ins Gesicht.
    »Bist du einer dieser Rebellen, von denen wir soviel gehört haben?«
    Der Verrückte murmelte etwas und schüttelte den Kopf.
    Der Soldat versetzte ihm einen Schlag mit dem Handrücken. Er war so schwach, daß er sofort zu Boden stürzte.
    Der Soldat zuckte die Achseln. »Der ist keine Gefahr.

Weitere Kostenlose Bücher