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INRI

INRI

Titel: INRI Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
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Waffen sind hier nicht. Wir haben uns geirrt.«
    Er sah die Frauen einen Augenblick abschätzend an und wandte sich dann mit hochgezogenen Brauen an seine Männer. »Wenn einem von euch danach ist - ihr könnt sie haben.«
    Der Verrückte lag auf der Erde und hörte die Schreie der Frauen, als sie vergewaltigt wurden. Er meinte, aufstehen und ihnen zu Hilfe kommen zu müssen, aber er war zu schwach, sich zu rühren, hatte zuviel Angst vor den Soldaten. Er wollte nicht umgebracht werden. Es würde bedeuten, daß er nie sein Ziel erreichen würde.
    Die herodianischen Soldaten ritten schließlich weiter, und die Sektenmitglieder kamen zurückgeschlichen.
    »Wie geht es den Frauen?« fragte der Verrückte.
    »Die sind tot«, sagte ihm einer.
    Ein anderer begann aus der Schrift vorzulesen, Verse über Rache und Gerechtigkeit und die Strafe des Herrn.
    Niedergeschlagen verkroch sich der Verrückte in der Dunkelheit.
    Er verließ die Sekte am nächsten Morgen, als er entdeckte, daß ihr Weg sie nicht nach Nazareth führen würde.
    Der Verrückte kam durch viele Städte - Philadelphia, Gerasa, Pella und Skythopolis - an den Straßen der Römer.
    Jeden Reisenden, den er traf, hielt er an und stellte ihm in seiner fremdländischen Aussprache die gleiche Frage: »Wo liegt Nazareth?«
    Bevor er eine Stadt verließ, vergewisserte er sich jedesmal, daß er den Weg einschlug, der nach Nazareth führte.
    In manchen Städten hatten sie ihm zu essen gegeben. In anderen hatten sie ihn mit Steinen beworfen und davongejagt. In anderen hatten sie ihn um seinen Segen gebeten, und er hatte getan, was er konnte, denn er brauchte die Nahrung, die sie ihm anboten. Er hatte ihnen die Hände aufgelegt und in seiner merkwürdigen Sprache zu ihnen gesprochen.
    In Pella heilte er eine blinde Frau.
    Er hatte bei dem römischen Viadukt den Jordan überquert und wanderte weiter nordwärts auf Nazareth zu.
    Es war zwar nicht schwer, den Weg nach Nazareth zu erfahren, aber es kostete ihn immer mehr Mühe, der Stadt näher zu kommen.
    Er hatte eine Menge Blut verloren und hatte auf seiner Reise sehr wenig gegessen. Er ging immer, bis er zusammenbrach, blieb dann liegen, bis er wieder gehen konnte, oder, was immer häufiger geschah, bis ihn jemand fand und ihm ein wenig sauren Wein oder Brot gab, um ihn wieder auf die Beine zu bringen.
    Nach dem Zwischenfall mit den herodianischen Soldaten wurde er vorsichtiger und reiste nur noch allein, identifizierte sich nie mit irgendwelchen Sekten oder Gruppen, die er traf. Manchmal fragten ihn Leute: »Bist du der Prophet, den wir erwarten?«
    Dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Sucht Jesus! Sucht Jesus!«
    Die weiße Stadt bestand hauptsächlich aus ein- und zweistöckigen Häusern aus Steinen und Lehmziegeln, sie war um einen Marktplatz herum gebaut, an dessen einer Seite eine alte, schlichte Synagoge stand. Vor der Synagoge saßen alte Männer in dunklen Gewändern, mit Schals auf den Köpfen und redeten miteinander.
    Die Stadt war wohlhabend und sauber; sie war durch den Handel mit den Römern aufgeblüht. Nur ein oder zwei Bettler waren in den Straßen, und sie waren wohlgenährt. Die Straßen folgten dem Auf und Ab des Berghangs, an dem die Stadt lag. Es waren gewundene, schattige und friedliche Landstraßen.
    Überall hing der Geruch von frisch geschnittenem Holz in der Luft, und überall hörte man die Geräusche von Sägen, Beilen und Hobeln, denn die Stadt war in erster Linie berühmt für ihre tüchtigen Zimmerleute. Sie lag am Rande der Ebene von Jesreel, an der Handelsstraße zwischen Damaskus und Ägypten, und ständig verließen Wagen die Stadt, beladen mit den Erzeugnissen ihrer Handwerker.
    Die Stadt hieß Nazareth.
    Jetzt hatte der Verrückte Nazareth gefunden.
    Die Städter musterten ihn mit Neugier und nicht geringem Mißtrauen, als er auf den Marktplatz wankte. Er konnte ein Wanderprophet sein oder auch ein von Teufeln Besessener. Er konnte ein Bettler sein oder ein Mitglied einer Sekte wie die Zeloten, die in jenen Tagen sehr unbeliebt waren wegen des Unheils, das sie vierzig Jahre vorher über Jerusalem gebracht hatten. Die Bewohner von Nazareth hatten mit Rebellen oder Fanatikern nicht viel im Sinn. Es ging ihnen gut, sie waren wohlhabender als zu irgendeiner Zeit, bevor die Römer kamen.
    Als der Verrückte an den Menschenknäueln vor den Ständen der Händler vorbeiging, verstummten sie, bis er vorbei war. Die Frauen zogen ihre schweren Wollschals enger um ihre üppigen Leiber, und

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