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INRI

INRI

Titel: INRI Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
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die Männer rafften ihre Baumwollgewänder zusammen, damit er sie nicht berührte. Normalerweise hätten sie als erstes daran gedacht, ihm Steuern für seine Geschäfte in der Stadt aufzuerlegen, aber sein Blick war von solcher Intensität, und sein Gesicht drückte trotz seines verhungerten Aussehens soviel Feuer und Vitalität aus, daß sie ihm einen gewissen Respekt entgegenbrachten und Abstand hielten.
    Als er die Mitte des Marktplatzes erreicht hatte, blieb er stehen und sah sich um. Er schien von den Menschen nur langsam Notiz zu nehmen. Er blinzelte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
    Eine Frau ging vorbei und beäugte ihn mißtrauisch. Er sprach zu ihr, mit leiser Stimme und sorgfältig geformten Worten.
    »Ist das hier Nazareth?«
    »Ja.« Sie nickte und ging schneller.
    Ein Mann überquerte den Platz. Er trug ein rot und braun gestreiftes Wollgewand. Auf seinem schwarzen Kraushaar saß ein rotes Käppchen. Sein Gesicht war rund und freundlich.
    Der Verrückte stellte sich ihm in den Weg und hielt ihn an.
    »Ich suche einen Zimmermann.«
    »Es gibt viele Zimmerleute in Nazareth. Es ist eine Zimmermannsstadt. Ich bin selbst ein Zimmermann.« Der Mann war freundlich, väterlich. »Kann ich dir helfen?«
    »Kennst du einen Zimmermann namens Joseph? Ein Nachkomme Davids. Seine Frau heißt Maria, und er hat mehrere Kinder. Ein Sohn heißt Jesus.«
    Der freundliche Mann zog etwas spöttisch die Brauen hoch und sagte: »Ich kenne mehr als einen Joseph. Und ich kenne viele Marias…« Dann wurde sein Blick nachdenklich, und seine Lippen verzogen sich, so als genösse er angenehme Erinnerungen. »Ich glaube, ich kenne den, den du suchst. Dort hinten in der Gasse wohnt ein armer Schlucker.« Er wies in die Richtung. »Er hat eine Frau, die Maria heißt. Versuch es dort! Du müßtest ihn leicht finden, wenn er nicht gerade Arbeit abliefert. Sieh dich nach einem Mann um, der nie lacht!«
    Der Verrückte schaute in die Richtung, die der Mann ihm gewiesen hatte. Dann schien er alles andere um sich zu vergessen und ging mechanisch auf die Gasse zu.
    In der engen Gasse war der Holzgeruch noch stärker. Er schritt knöcheltief durch Hobelspäne.
    In Nazareth herrschte nicht die trockene Hitze, an die er sich gewöhnt hatte. Es war eher wie an einem schönen Sommertag in England, einem süßen, faulen Tag…
    Dem Verrückten begann das Herz zu klopfen.
    Aus jedem Haus hörte er Hämmern und das Knirschen von Sägen. Bretter und Bohlen aller Größen lehnten an den blassen, schattigen Wänden, und dazwischen war es so eng, daß man kaum durchkommen konnte.
    Der Verrückte hielt an. Er zitterte vor Angst.
    Viele der Zimmerleute hatten ihre Werkbänke direkt vor ihrer Haustür stehen. Sie schnitzten Tröge, arbeiteten an einfachen Drechselbänken und verarbeiteten Holz zu allen erdenklichen Gegenständen.
    Der Verrückte setzte sich wieder in Bewegung. Die Zimmerleute sahen auf, als sie ihn kommen sahen.
    Er trat an einen alten Zimmermann mit einer Lederschürze heran, der an seiner Bank saß und eine Figur schnitzte. Der Mann hatte graues Haar und wirkte kurzsichtig, als er den Verrückten anblinzelte.
    »Was willst du? Ich habe kein Geld für Bettler.«
    »Ich bin kein Bettler. Ich suche einen, der in dieser Gasse wohnt.«
    »Wie heißt er?«
    »Joseph. Er hat eine Frau, die Maria heißt.«
    Der alte Mann zeigte mit der Hand, in der er die halb fertige Figur hielt. »Zwei Häuser weiter, auf der anderen Seite.«
    Er begann zu zittern und zu schwitzen.
    Narr - es ist nur…
    O Gott…
    Vielleicht stellt sich heraus, daß sie gar nichts wissen. Es ist nur ein Zufall.
    O Gott!
    An dem Haus, zu dem der Verrückte kam, lehnten nur sehr wenig Bretter, und das Holz schien von geringerer Qualität zu sein als das andere, das er gesehen hatte. Die Werkbank beim Eingang war an einem Ende verzogen, und der Mann, der darübergebeugt stand und einen Hocker reparierte, schien auch mißgestaltet zu sein.
    Der Verrückte tippte ihm auf die Schulter, und er richtete sich auf. Sein Gesicht war zerfurcht und von Armut gezeichnet. Sein Blick war müde, und der dünne Bart zeigte schon graue Strähnen. Er hustete verlegen, vielleicht weil ihn die Störung so überrascht hatte.
    »Bist du Joseph?« fragte der Verrückte.
    »Ich habe kein Geld.«
    »Ich will nichts haben - nur ein paar Fragen stellen.«
    »Ich bin Joseph. Was willst du wissen?«
    »Hast du einen Sohn?«
    »Mehrere, und Töchter auch.«
    Der Verrückte machte eine Pause.

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