INRI
Joseph sah ihn neugierig an. Er schien sich zu fürchten. Es war etwas Neues für Joseph, daß sich jemand vor ihm fürchtete.
»Was ist los?«
Der Verrückte schüttelte den Kopf. »Nichts.« Seine Stimme war heiser. »Deine Frau heißt Maria? Du stammst von David ab?«
Der Mann machte eine wegwerfende Bewegung. »Ja, ja - als ob ich davon was hätte…«
»Ich möchte einen deiner Söhne sehen. Hast du einen, der Jesus heißt? Kannst du mir sagen, wo er ist?«
»Dieser Taugenichts! Was hat er wieder ausgefressen?«
»Wo ist er?«
Josephs Blick wurde abschätzend, während er den Verrückten anstarrte. »Bist du ein Seher? Bist du gekommen, um meinem Sohn zu helfen?«
»Ich bin in gewissem Sinn ein Prophet. Ich glaube, ich kann die Zukunft voraussagen.«
Joseph stand seufzend auf. »Ich habe nicht viel Zeit. Ich muß so bald wie möglich Arbeiten nach Nain liefern.«
»Laß mich zu ihm!«
»Du kannst ihn sehen. Komm!«
Joseph führte den Verrückten durch das Tor in den engen Innenhof des Hauses, der mit Holzabfällen, zerbrochenen Möbeln und Werkzeugen und rottenden Säcken voll Hobelspäne vollgestellt war.
Sie betraten das dunkle Haus.
Der Verrückte atmete schwer.
Im ersten Raum, offensichtlich die Küche, stand eine Frau an einem großen Lehmherd. Sie war groß und hatte schon ziemlich Speck angesetzt. Ihr langes, schwarzes Haar war fettig und fiel lose über große, strahlende Augen, die immer noch Sinnlichkeit versprühten. Sie musterte den Verrückten.
»Wie ich sehe, hast du einen neuen, zahlungskräftigen Kunden gefunden, Joseph«, sagte sie sardonisch.
»Er ist ein Prophet.«
»Oh, ein Prophet. Und hungrig, nehme ich an. Wir haben nichts zu essen für Bettler oder Propheten, egal wie sie sich nennen.« Sie zeigte mit einem Holzlöffel auf eine kleine Gestalt, die in einer Ecke im Schatten saß. »Dieses nutzlose Ding ißt uns schon genug weg.« Die Gestalt rührte sich, während sie sprach.
»Er sucht unsern Jesus«, sagte Joseph zu der Frau. »Vielleicht ist er gekommen, um uns die Bürde zu erleichtern.«
Die Frau sah den Verrückten von der Seite an und zuckte die Achseln. Sie fuhr sich mit ihrer dicken Zunge über die roten Lippen. »Vielleicht hast du recht. Er hat etwas an sich…»
»Wo ist er?« fragte der Verrückte mit heiserer Stimme.
Die Frau legte die Hände unter ihre großen Brüste und schob sie in ihrem groben braunen Gewand zurecht. Sie rieb sich mit der Hand über den Bauch und warf dem Verrückten einen verstohlenen Blick zu. »Jesus!« rief sie, ohne sich umzudrehen.
Die Gestalt in der Ecke stand auf.
»Da ist er«, sagte die Frau mit einer gewissen Genugtung.
Wie?
Das k…
Jesus!
Ich brauche…
Nein!
Der Verrückte runzelte die Stirn und schüttelte schnell den Kopf. »Nein«, sagte er. »Nein.«
»Was soll das, ›nein‹?« fragte sie gereizt. »Mir ist ganz egal, was du mit ihm machst. Wenn du ihm das Stehlen abgewöhnen kannst. Er weiß es nicht besser, aber er wird eines Tages in größte Schwierigkeiten kommen, wenn er einen bestiehlt, der nichts über ihn weiß…«
»Nein…«
Der Junge war mißgestaltet.
Er hatte einen deutlichen Buckel und schielte mit dem linken Auge. Das Gesicht war das eines Idioten. Ein wenig Speichel lief ihm von den Lippen.
»Jesus?«
Er kicherte, als sein Name wiederholt wurde. Er kam unbeholfen einen Schritt näher.
»Jesus«, sagte er, undeutlich und mit belegter Stimme. »Jesus.«
»Das ist alles, was er sagen kann«, sagte die Frau. »Er ist immer so gewesen.«
»Großes Urteil«, sagte Joseph.
»Ach, halts Maul!« Sie grinste ihren Mann böse an.
»Was fehlt ihm?«
Es lag ein kläglicher, verzweifelter Ton in der Stimme des Verrückten.
»Er ist immer so gewesen.« Die Frau wandte sich dem Herd zu. »Du kannst ihn haben, wenn du ihn willst. Nimm ihn mit! Mißgeburt, innerlich und äußerlich. Ich trug ihn, als meine Eltern mich an diesen halben Mann verheirateten… «
»Du Sau! Du schamlose…« Joseph hielt inne, als seine Frau ihn wieder angrinste und ihn herausforderte weiterzusprechen. Um sein Gesicht zu wahren, versuchte er zurückzulächeln. »Du hattest eine gute Erklärung für sie, nicht wahr? Die älteste Entschuldigung auf der Welt! Von einem Engel genommen. Von einem Teufel genommen ist wahrscheinlicher.«
»Ja, er war der Teufel«, sagte sie grinsend. »Und er war ein Mann…«
Joseph fiel für einen Augenblick in sich zusammen, aber dann, als erinnerte er sich an die Angst, die er
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