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INRI

INRI

Titel: INRI Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
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dem Verrückten vorher eingeflößt zu haben schien, drehte er sich zu dem Mann um und herrschte ihn an: »Was geht dich unser Sohn an?«
    »Ich wollte mit ihm sprechen. Ich…«
    »Er ist kein Orakel - kein Seher - wir glaubten früher, er könnte es sein. Es gibt immer noch Leute in Nazareth, die zu ihm kommen, damit er sie heilt oder ihnen ihre Zukunft prophezeit, aber er kichert nur und sagt immerzu nur seinen Namen…«
    »Seid ihr sicher - daß er - nicht etwas an sich hat - etwas, das ihr noch nicht bemerkt habt?«
    »Gewiß!« sagte Maria betont verächtlich. »Wir brauchen Geld dringend genug. Wenn er irgendwelche magischen Kräfte hätte, wüßten wir es bestimmt schon.«
    Jesus kicherte wieder.
    »Jesus«, sagte er. »Jesus, Jesus.«
    Er hoppelte in einen anderen Raum.
    Joseph rannte hinter ihm her. »Er darf dort nicht hinein! Ich will nicht, daß er schon wieder den Fußboden naßmacht.«
    Während Joseph in dem anderen Raum war, sah Maria den Verrückten wieder abschätzend an. »Wenn du die Zukunft voraussagen kannst, mußt du einmal kommen und mir meine voraussagen. Er reist heute abend nach Nain ab…«
    Joseph führte den Krüppel in die Küche zurück und setzte ihn auf einen Hocker in der Ecke. »Bleib hier, verdammter Kerl!«
    Der Verrückte schüttelte den Kopf. »Es ist unmöglich…«
    Hatte die Geschichte sich verändert?
    War das alles, worauf die Geschichte beruhte?
    Es war unmöglich…
    Joseph schien den schmerzlichen Blick in den Augen des Verrückten zu bemerken.
    »Was ist?« fragte er. »Was siehst du? Du sagtest, du könntest die Zukunft voraussagen. Sag uns, was uns bestimmt ist!«
    »Nicht jetzt «,sagte der Prophet und wandte sich ab. »Wie kann ich? Nicht jetzt.«
    Er rannte aus dem dunklen Haus hinaus in die Sonne. Er rannte die Gasse hinunter, in der es nach gehobeltem Eichen-, Zedern- und Zypressenholz roch.
    Einige der Zimmerleute sahen, auf und hätten ihn fast für einen Dieb gehalten. Aber sie sahen, daß er nichts bei sich trug.
    Er lief zum Marktplatz zurück. Dort blieb er stehen und blickte geistesabwesend um sich.
    Der Verrückte, der Prophet, Karl Glogauer, der Zeitreisende, der neurotische verhinderte Psychiater, der Sucher nach einem Sinn, der Masochist, der Mann mit dem Todestrieb und dem Messiaskomplex, der Anachronismus, ging nach Luft ringend über den Marktplatz.
    Er hatte den Mann gesehen, den er gesucht hatte. Er hatte Jesus gesehen, den Sohn von Maria und Joseph.
    Er hatte einen Menschen gesehen, den er zweifelsfrei als einen geborenen Idioten erkannt hatte.
    Der freundliche Mann mit dem roten Käppchen war noch auf dem Marktplatz, er kaufte gerade Kochtöpfe für ein
    Hochzeitsgeschenk. Als der Fremde vorbeitaumelte, zeigte er durch ein Kopfnicken auf ihn. »Das ist er.«
    »Woher kommt er?«
    »Keine Ahnung. Nicht aus dieser Gegend, nach seinem Dialekt zu urteilen. Ich vermute, er ist ein Verwandter des sauertöpfischen Joseph - ihr wißt doch, der mit der Frau…«
    Der Topfhändler grinste.
    Sie sahen ihn im Schatten an der Wand der Synagoge niedersinken.
    »Was ist er? Ein religiöser Fanatiker? Ein Zelot oder so etwas?« fragte der Topfhändler.
    Der andere schüttelte den Kopf. »Das Aussehen eines Propheten hat er, oder nicht? Aber ich weiß es nicht. Vielleicht ist er nur in seiner Heimat ins Unglück geraten und wollte bei seinen Verwandten Hilfe suchen…«
    »Beim alten Joseph Hilfe suchen!« Der Mann lachte.
    »Vielleicht wurde er aus seiner Heimat vertrieben«, sagte der Mann mit dem roten Käppchen. »Wer weiß? Er kann bei Joseph nicht viel erreicht haben. Er war nicht sehr lange dort.«
    »Er weiß wohl nicht, wo er jetzt hin soll«, sagte der Topfhändler.
    Er blieb an der Synagogenwand bis zum Anbruch der Nacht. Er begann starken Hunger zu spüren. Außerdem regte sich zum erstenmal seit mehr als einem Monat wieder Lust bei ihm. Es war, als käme ihm der Trieb als Retter in der Not, als ob die Lust ihn die Verwirrung vergessen machen könnte, die in seinem Geist herrschte.
    Er stand langsam auf und ging zu der Gasse zurück.
    Er ging durch die Zimmermannsgasse, in der es jetzt still war. Aus den Häusern waren einige Stimmen und das Bellen eines Hundes zu hören.
    Er erreichte das Haus. Die Werkbank und das Holz waren weg. Das Tor war verriegelt.
    Er klopfte.
    Es kam keine Antwort.
    Er klopfte etwas lauter und konnte seine Diskretion kaum verstehen.
    Das Tor wurde geöffnet, und ihr Gesicht schaute heraus. Sie schenkte ihm ein breites,

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