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INRI

INRI

Titel: INRI Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
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als tatsächlich der Fall war.
    Dann, an einem Sabbat, erschien er im öffentlichen Teil der Synagoge und nahm seinen Platz unter denen ein, die zum Gottesdienst gekommen waren.
    Der Mann zu seiner Linken, der aus der Schriftenrolle vorlas, verhedderte sich und schielte den Propheten an.
    Der Prophet saß da und hörte mit abwesendem Blick zu.
    Der Chefrabbiner sah ihn unsicher an und gab dann ein Zeichen, man solle die Schriftrolle dem Propheten geben. Zögernd ging ein Junge hin und drückte dem Propheten die Rolle in die Hand.
    Der Prophet sah die Worte lange an, und es schien, als wollte er nicht lesen, denn er machte einen verstörten Eindruck. Dann richtete er sich auf und begann mit klarer Stimme zu lesen, fast frei von seinem üblichen Akzent. Er las aus dem Buch Jesaja.
    Die Leute hörten ihm mit großer Aufmerksamkeit zu.
    »Der Geist des Herrn ist bei mir, darum daß er mich gsalbt hat; er hat mich gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, und zu verkündigen das angenehme Jahr des Herrn.« Und als er das Buch zutat, gab er's dem Diener und setzte sich. Und aller Augen, die in der Schule waren, sahen auf ihn.
    Lukas 4, 18-20
    Glogauer setzte danach sein Studium der Testamente nicht fort, sondern machte es sich zur Gewohnheit, in den Straßen umherzuwandern und mit den Menschen zu reden. Sie erwiesen ihm viel Ehrerbietung und baten ihn um Rat in allen möglichen Dingen. Er tat sein bestes, um sie gut zu beraten.
    Seit seinen ersten Wochen mit Eva hatte er sich nicht mehr so gut gefühlt.
    Er beschloß, das nicht ein zweitesmal zu verlieren.
    Zuerst zögerte er und weigerte sich, wenn sie ihn baten, einem Kranken die Hand aufzulegen. Aber einmal, in einem Fall von offensichtlicher hysterischer Blindheit, nach allem was die Verwandten ihm erzählten, legte er doch seine Hände auf die Augen der Frau, und ihre Blindheit verließ sie.
    Ohne es zu wollen, war Glogauer bei der Rückkehr in seine Zelle in der Synagoge sehr erregt. Es gab hier so viele Fälle von Hysterie aller Art.
    Vielleicht war die Hysterie ein Produkt der Zeit, er konnte das nicht sagen. Schließlich schlug er sich den Gedanken aus dem Kopf. Er würde sich später darum sorgen.
    Am nächsten Tag sah er Maria über den Marktplatz gehen. Sie führte ihren unehelichen Sohn an seinem Umhang.
    Glogauer machte eilig kehrt und ging in die Synagoge zurück.
    15
    Sie folgten ihm jetzt, als er Nazareth verließ und in Richtung auf den See Genezareth davonwanderte. Er hatte das frische weiße Leinengewand an, das sie ihm gegeben hatten, und bewegte sich mit wunderbarer Anmut und Würde; ein großer Führer, ein großer Prophet; aber obwohl sie meinten, er führe sie, trieben sie ihn in Wirklichkeit vor sich her.
    Wenn sie unterwegs jemand fragte, sagten sie: »Es ist unser Messias.« Und es gingen schon Gerüchte über viele Wundertaten um.
    Meine Erlösung, meine Rolle, meine Bestimmung. Bei der Überwindung einer Versuchung muß ich erst einer anderen nachgeben; Feigheit und Stolz. Mit der Lüge leben, um die Wahrheit herbeizuführen. Ich habe viele betrogen, die mich betrogen haben, weil ich mich selbst betrog.
    Aber Monica würde meinen Pragmatismus jetzt billigen…
    Wenn er die Kranken sah, taten sie ihm leid, und er tat sein möglichstes, weil sie etwas von ihm erwarteten. Für viele konnte er nichts tun, aber anderen, mit offensichtlich leicht zu behebenden psychosomatischen Leiden, konnte er helfen. Sie glaubten stärker an seine Kräfte als an ihre Krankheit. So heilte er sie.
    Als er nach Kapernaum kam, folgten ihm fünfzig Menschen in die Straßen der Stadt. Es war schon bekannt, daß irgendeine Verbindung zwischen ihm und Johannes dem Täufer bestand, der sich in Galiläa eines großen Rufes erfreute und von vielen Pharisäern als echter Prophet anerkannt wurde. Doch dieser Mann hatte Kräfte, die denen des Täufers in mancher Weise überlegen waren. Er war kein so guter Redner wie Johannes, aber er hatte Wunder gewirkt.
    Kapernaum war eine weitläufige Stadt am kristallklaren See Genezareth. Zwischen den einzelnen Häusern lagen große Marktgärten. Fischerboote an der weißen Kaimauer, auch Handelsschiffe, die die Städte an den Ufern des Sees anliefen.
    Obwohl der See auf allen Seiten von grünen Bergen eingerahmt war, lag Kapernaum selbst auf einer Ebene,

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