INRI
im Schutz der Berge. Es war eine ruhige Stadt, die wie die meisten in Galiläa viele nichtjüdische Einwohner hatte. Griechische, römische und ägyptische Händler sah man in den Straßen, und viele hatten Häuser dort. Es gab eine wohlhabende Mittelklasse aus Kaufleuten, Handwerkern und Schiffseignern, dazu Ärzte, Rechtsanwälte und Gelehrte, denn Kapernaum lag an den Grenzen der Provinzen Galiläa, Trachonitis und Syrien, war zwar eine verhältnismäßig kleine Stadt, aber ein wichtiger Handels- und Verkehrsknotenpunkt.
Der sonderbare, verrückte Prophet in dem wallenden Leinengewand, mit dem bunt zusammengewürfelten Gefolge, das hauptsächlich aus armen Leuten bestand, zu dem aber doch auch Männer von einigem Rang gehörten, zog in Kapernaum ein.
Es hatte sich die Nachricht verbreitet, daß der Mann wirklich die Zukunft voraussagen könne, daß er schon die Verhaftung von Johannes durch Herodes Antipas vorausgesagt habe und Herodes bald danach den Täufer in Peräa eingesperrt habe.
Das war es, was sie beeindruckte. Er machte seine Vorhersagen nicht in allgemeinen Wendungen, in vagen Ausdrücken wie die anderen Propheten. Er sprach von Dingen, die sich bald ereignen sollten, und er gab genaue Einzelheiten an.
Keiner kannte zu dieser Zeit seinen Namen. Das machte ihn noch geheimnisvoller und erhöhte seine Bedeutung. Er war einfach der Prophet aus Nazareth oder der Nazarener.
Manche sagten, er sei ein Verwandter, vielleicht der Sohn eines Zimmermanns in Nazareth, aber das konnte auch davon kommen, daß die Schriftbilder der Worte ›Sohn eines Zimmermanns‹ und ›Magus‹ fast gleich aussahen. Der Irrtum konnte also auf diese Weise entstanden sein.
Es wurde sogar gelegentlich behauptet, sein Name sei Jesus. Der Name war ein- oder zweimal gefallen, aber wenn sie ihn fragten, ob das tatsächlich sein Name sei, bestritt er es oder antwortete, geistesabwesend wie er war, überhaupt nicht.
Seine eigentlichen Predigten hatten nicht das Feuer und die Wirkung wie die des Johannes, und viele seiner Hinweise erschienen ein wenig unverständlich, selbst den Priestern und Gelehrten, die aus Neugier kamen, ihn anzuhören.
Dieser Mann sprach sanft, ziemlich vage, und lächelte oft. Er sprach auch in einer merkwürdigen Weise über Gott, und er schien ebenso wie Johannes zu den Essenern zu gehören, denn er predigte gegen die Anhäufung von persönlichem Reichtum und bezeichnete ebenfalls die Mitmenschen als Brüder.
Aber es waren besonders die Wunder, auf die alle warteten, als er in die schöne Synagoge von Kapernaum geleitet wurde.
Vor ihm hatte noch kein Prophet Kranke geheilt und Verständnis für die Leiden gezeigt, über die man selten sprach. Es waren nicht so sehr seine Worte, sondern mehr sein Mitgefühl, auf das sie ansprachen.
Doch manchmal wurde er verschlossen und wollte nicht reden, verlor sich in seinen eigenen Gedanken, und manche bemerkten, wie schmerzvoll sein Blick war, und ließen ihn allein, weil sie glaubten, er stehe in Gedankenverbindung mit Gott.
Diese Perioden wurden mit der Zeit kürzer, und er widmete den Kranken und Hilfsbedürftigen mehr Zeit, tat sein möglichstes für sie, und selbst die Weisen und die Reichen in Kapernaum begannen ihn zu achten.
Vielleicht die größte Wandlung, die er durchgemacht latte, war, daß Karl Glogauer zum erstenmal in seinem Leben Karl Glogauer vergessen hatte. Zum erstenmal in seinem Leben tat er, wozu er sich immer zu schwach gewähnt hatte. Damit ging gleichzeitig sein größter Wunsch in Erfüllung; er vollbrachte, was er immer zu vollbringen gehofft hatte, bevor er die Psychiatrie aufgab.
Da war noch etwas anderes, etwas, das er mehr instinktiv als mit dem Verstand erfaßte. Er hatte jetzt die Gelegenheit, Erlösung und gleichzeitig Bestätigung für das Leben zu finden, das er geführt hatte, bis er Johannes den Täufer verließ und in die Wüste floh.
Aber es war nicht sein eigenes Leben, das er von nun an führte. Er brachte der Welt einen Mythos, eine Generation, bevor dieser Mythos geboren werden sollte. Er schloß einen gewissen seelischen Kreis. Er sagte sich, daß er die Geschichte nicht verändere; er verlieh der Geschichte lediglich mehr Gehalt.
Da ihm der Gedanke, Jesus sei nichts weiter als ein Mythos gewesen, immer unerträglich gewesen war, hielt er es für seine Pflicht, Jesus zu einer physischen Realität werden zu lassen, statt nur zu einem Geschöpf eines mythogenetischen Prozesses. Warum war das wichtig? fragte er sich;
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