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INRI

INRI

Titel: INRI Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
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noch nie solchen Schmerz in den Augen eines Mannes gesehen.
    »Die Wissenschaft kann uns sagen wie, aber sie fragt nie warum«, hatte er Monica gesagt. »Sie kann keine Antwort geben.«
    »Wer will's wissen?« hatte sie geantwortet.
    »Ich.«
    »Nun, du wirst es nie herausfinden, oder?«
    Sau! Verräterin! Kanaille!
    Warum ließen sie ihn immer sitzen?
    »Setz dich, mein Sohn!« sagte der Rabbiner. »Was möchtest du uns fragen?«
    »Wo ist Christus?« fragte er.
    Sie verstanden seine Sprache nicht.
    »Ist es Griechisch?« fragte einer, aber ein anderer schüttelte den Kopf.
    Kyrios : Der Herr.
    Adonai : Der Herr.
    Wo war der Herr?
    Er zog die Stirn kraus und sah sich unsicher um.
    »Ich muß mich ausruhen«, sagte er in ihrer Sprache.
    »Woher kommst du?«
    Er wußte nicht, was er antworten sollte.
    »Woher kommst du?« wiederholte ein Rabbiner die Frage.
    Schließlich murmelte er: »Ha-Olam Hab-Bah…«
    Sie sahen einander an. »Ha-Olam Hab-Bah« , sagten sie.
    Ha-Olam Hab-Bah; Ha-Olam Haz-Zeh: Die Welt, die kommt, und die Welt, die ist.
    »Bringst du uns eine Botschaft?« fragte einer der Rabiner. Dieser Prophet war so anders. So sonderbar, daß man fast glauben konnte, er sei ein echter Prophet. »Eine Botschaft?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte der Prophet heiser. »Ich muß mich ausruhen. Ich bin schmutzig. Ich habe gesündigt.«
    »Komm! Wir werden dir Essen und eine Schlafstätte geben. Wir werden dir zeigen, wo du baden und wo du beten kannst.«
    Diener brachten heißes Wasser, und er reinigte seinen Körper. Sie stutzten ihm den Bart und das Haar und schnitten ihm die Nägel.
    In der Zelle, die die Rabbiner ihrem Besuch zugewiesen hatten, brachten sie ihm dann gutes Essen, das er nur mit Mühe essen konnte. Und der Strohsack im Bett war ihm zu weich. Er war das nicht gewohnt. Aber in Josephs Haus hatte er keine richtige Ruhe gefunden, und er legte sich hin.
    Er schlief schlecht, schrie im Traum, und draußen vor der Zelle horchten die Rabbiner. Aber sie verstanden nicht viel von dem, was er sagte.
    »Daß du von allen Dingen ausgerechnet Aramäisch studieren würdest, Karl, hätte ich zuallerletzt erwartet. Kein Wunder, daß du…«
    Meine Teufelin, meine Versucherin, mein Verlangen, mein Kreuz, meine Liebe, meine Lust, mein Bedürfnis, meine Nahrung, mein Anker, meine Herrin, meine Sklavin, mein Fleisch, meine Befriedigung, meine Zerstörerin.
    Ach, all die Tage voller Liebe, die es hätte geben können, wenn ich stark gewesen wäre; nach Eva und all denen, die mich wegen meiner Schwächen verschmähten; nach all dem Lohn, der dem Tapferen zuteil wird, nach all den Realitäten, die dem Starken winken, danach sehne ich mich. Das ist die Ironie.
    Die förmliche Ironie, unvermeidlich und gerecht.
    Ich bin nicht zufrieden.
    Karl Glogauer blieb einige Wochen in der Synagoge. Er verbrachte die meiste Zeit mit Lesen in der Bibliothek. Er suchte in den langen Schriftrollen nach einer Antwort auf sein Dilemma. Die Testamentstexte, die in vielen Fällen ein Dutzend verschiedene Auslegungen erlaubten, verwirrten ihn nur noch mehr. Es gab nichts Greifbares, nichts, das ihm sagte, wo der Fehler lag.
    Dies ist eine Komödie. Ist es das, was ich verdiene? Gibt es keine Hoffnung? Keine Lösung?
    Die Rabbiner hielten meistens Abstand. Sie hatten ihn als einen heiligen Mann akzeptiert. Sie waren stolz, ihn in ihrer Synagoge zu haben. Sie waren sicher, daß er einer der Auserwählten Gottes war, und sie warteten geduldig, bis er zu ihnen sprach.
    Aber der Prophet sagte wenig, murmelte nur manchmal etwas vor sich hin, ein paar Worte in ihrer Sprache und dann wieder in der unverständlichen Sprache, die er oft benutzte, sogar wenn er sie direkt ansprach.
    Die Einwohner von Nazareth sprachen kaum über etwas anderes als den mysteriösen Propheten in der Synagoge. Sie wußten, daß er ein Verwandter von Joseph war, und Joseph bestätigte das jetzt stolz. Sie wußten, daß Joseph vom Geschlecht Davids war, ganz gleich, was der griesgrämige Zimmermann sonst sein mochte. Also war auch der Prophet vom Geschlecht Davids. Ein wichtiges Zeichen, darin waren sich alle einig.
    Sie befragten die Rabbiner, aber die weisen Männer erzählten ihnen nichts, außer daß sie ihrer Arbeit nachgehen sollten, daß es Dinge gebe, die sie noch nicht wissen dürften. Auf diese Art wichen sie Fragen aus, die sie nicht beantworten konnten, wie Priester das schon immer gemacht hatten, während sie andererseits den Eindruck erweckten, mehr zu wissen,

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