Ins dunkle Herz Afrikas
sich mit Sonnenschutz ein. Zwischen Kinn und Halsgrube fühlte sie es plötzlich. Ein kirschgroßer Knoten wölbte sich unter ihren Fingerkuppen. Ein Mückenstich, dachte sie automatisch, doch als ihr plötzlich bewusst wurde, dass er nicht juckte, flogen ihre Finger zurück, zirkelten, massierten, drückten das Gewächs, aber es blieb. Innerlich weigerte sie sich, den Gedanken zuzulassen, dass es etwas Ernstes sein könnte. Sie ging mit lan an den Strand, sagte nichts, so als würde dieser Knoten durch Nichterwähnen verschwinden.
Abends war der Knoten noch immer da, ihren panischen Fingern erschien er leicht vergrößert. Kein Wunder, wenn du dauernd dran herumdrückst, rief sie sich selbst zur Ordnung und zog sich zum Abendessen um. Das Wort »Krebs«
blockierte sie, klammerte sich in den grauen Stunden der Nacht, als sie in einem Morast der Angst versank, an lan, aber sie sagte ihm nichts. Die zwei Tage, die sie noch an ihrem Ferienort blieben, vergingen in bleierner Langsamkeit. Als sie am Tag nach ihrer Rückkehr in das Gesicht ihrer Internistin blickte, wusste sie, dass es um ihr Leben ging. Der Termin im Krankenhaus zur Gewebeentnahme war am nächsten Morgen, und lan war vormittags nach London geflogen. Sie hatte das Telefon schon in der Hand, wollte hineinrufen, bitte komm, ich brauch dich, bitte lass mich nicht allein, aber sie legte den Hörer zurück.
Es wurde die einsamste Nacht ihres Lebens. Nach nichts sehnte sie sich mehr, als in lans Armen Trost zu finden. Nichts fürchtete sie mehr, als ihre eigene Verzweiflung in seinen Augen lesen zu müssen.
120
Sie ging den Gang allein. Bis heute konnte sie sich nicht erinnern, ob je in den zehn Tagen, die sie auf das Ergebnis warten musste, die Sonne schien, die Vögel sangen oder sie auch nur eine Minute geschlafen hatte.
Einen Tag, bevor sie das Ergebnis, das Urteil, erhalten sollte, stand Ingrid vor ihrer Tür. Ungewöhnlich für sie, denn sie plante alle gesellschaftlichen Kontakte mindestens vier Wochen im Voraus. »Hast du einen Moment Zeit für mich?«
Sie sah Ingrids fleckiges Gesicht, die schweren Tränensäcke, die aufgeschwollenen Lider und öffnete die Tür weit. »Was ist passiert?« Es musste etwas passiert sein. Ingrids sprudelndes, fröhliches Wesen war verschwunden.
Sie saß vor ihr mit gekrümmtem Rücken und bebender Unterlippe. Hatte Heiner sie endgültig verlassen? »Ich hab einen Knoten in der Brust«, stieß sie hervor, »morgen muss ich ins Krankenhaus. Ich halt das allein nicht durch.«
Ingrids Worte rissen einen Damm nieder. Henrietta saß ganz still, zwang ihre Hand, ruhig im Schoss zu liegen, nicht an das kirschgroße Ungetüm am Hals zu fassen, zwang sich, den Ansturm ihrer Gefühle zu ertragen. Diese abgrundtiefe Angst, den Schrei nach lan, das Bedürfnis, Ingrid zu sagen, lass mich in Frieden, ich kann dich nicht auch noch tragen. Zwang sich, ihre Tränen nicht überlaufen zu lassen. »Das tut mir Leid.« Trocken und dünn kam es heraus. Es war alles, was sie im Moment fertig brachte zu sagen. »Das tut dir Leid?«
schrie Ingrid. »Ist das alles? Ich muss vermutlich sterben, und es tut dir Leid?« Sie zitterte am ganzen Körper. Henrietta schloss die Augen. Der Gedanke an morgen Nachmittag, an den Telefonanruf bei ihrer Internistin, fuhr wie ein glühender Strom durch sie hindurch, jagte ihr Herz hoch. Geh weg, zitterte sie innerlich, geh weg, es ist zu viel für mich. Doch dann öffnete sie ihre Augen, nahm Ingrids widerstrebende Hand und legte den Zeigefinger auf die Stelle an ihrem Hals. »Morgen höre ich, ob es ...«, Pause, ein tiefer Atemzug, »...
schlimm ist.«
Ingrid holte pfeifend Luft, Mascara rann in schwarzen Bächen über ihre Wangen, der Lidstrich saß als rußiger, verschmierter Schatten 121
um die Augen, gab ihr eine tragische Aura. »Oh, Henrietta«, weinte sie und warf sich ihr in die Arme, »oh, Henrietta.« Das war zu viel. Sie brach zusammen. Der Sturm, der an ihr zerrte, rüttelte an ihren Grundfesten, doch mit einem Rest von Kraft hielt sie durch, bis er vorüber war. »Meine Freundin Tita«, sagte sie, ihre Stimme noch schwer mit Tränen, »würde in einer solchen Situation das richtige Rezept haben. Einen starken Kaffee mit viel Zucker für die Seele und einen doppelten Cognac für die Nerven.« Sie wuschen sich ihre Gesichter, tranken übersüßen Kaffee und leerten die halb volle Cognacflasche bis zum letzten Tropfen. Der Kaffee beschleunigte die Aufnahme des Cognacs, der ihr geradewegs
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