Ins Eis: Roman (German Edition)
vom Flughafen auf dem Beifahrersitz. Der Fahrer, ein Mann im selben Alter, starrte sie im Vorbeifahren an. Kirsten drehte sich auf ihrem Sitz, bis sie zum Heckfenster hinausschauen konnte. Im Rückspiegel des anderen Fahrzeugs meinte sie zu sehen, wie sich ihre Blicke kreuzten.
»Hast du gesehen? Das war dieser unfreundliche Typ vom Flughafen!«
Fredrik hob die Schultern. »In Longyearbyen begegnet man sich ständig. Zu wenig Leute und immer dieselben. Hier ist jeder des anderen Schatten.«
»Er hatte ein Gewehr auf dem Schoß!«
»Wegen der Eisbären. Du wirst viele Waffenschränke in der Stadt sehen, sogar in der Kirche gibt es einen.«
Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend. Erst als sie vor dem Hotel das Gepäck ausluden, wurde Fredrik wieder gesprächiger.
»Die Agentur, die nächste Woche das Geburtstagsprogramm arrangieren wird, hätte morgen noch Plätze auf einer Hundeschlittentour zu einer Eishöhle frei. Wenn ihr wollt, könnt ihr daran teilnehmen. Dann kommt ihr mal raus aus Longyearbyen und seht was vom Land.«
»Ich hatte eigentlich nicht vor, nur zwischen unserem Hotelzimmer und der nächsten Kneipe zu pendeln.«
Fredrik griff nach ihrem Arm. »Kirsten, ihr könnt euch nicht alleine außerhalb der Stadt aufhalten, das ist zu gefährlich. Bei Longyearbyen treiben sich immer wieder Eisbären herum, erst in den letzten Tagen sind zwei Bären bis in die Siedlung gekommen. Einer von ihnen hat einen Hund getötet, den zweiten haben sie mit einem Helikopter vertreiben müssen. Hier in der Stadt musst du dir keine Sorgen machen, hier könnt ihr euch frei bewegen, auch nachts. Aber nur dass dir bewusst ist: keine Ausflüge jenseits der Stadtgrenze auf eigene Faust.«
Jonas hatte kreisrunde Augen bekommen. Sein kleiner Kinderrucksack baumelte vergessen in seinen Händen. »Hundeschlitten fahren?«, bettelte er und zerrte an Kirstens Arm. »Eisbären sehen?«
Damit war ihr Programm für den nächsten Tag beschlossen.
Fredrik erledigte die Check-in-Formalitäten an der Rezeption, gab dem Tourenanbieter Bescheid und ließ es sich nicht nehmen, die schweren Taschen aufs Zimmer zu tragen. »Mein Zimmer ist gleich den Gang runter«, sagte er, während Kirsten die Tür aufschloss. »Das vorletzte vor dem Notausgang. Damit ihr wisst, wo ihr klopfen müsst, wenn ihr etwas braucht.«
»Opa«, krähte es vom Flur her. »Deine Tür hat Buchstaben!«
Kirsten konnte nur ebenso ratlos wie Fredrik die Hände ausbreiten. Sie traten zurück in den Gang. Jonas stand vor dem Zimmer, das Fredrik beschrieben hatte, und deutete nach oben. Jemand hatte mit violetter Kreide etwas auf Norwegisch an die Tür geschrieben. Fredrik schnaubte empört.
»Jonas, hol ein wenig Toilettenpapier aus dem Bad und mach es nass. Wir werden das wegwischen, da hat sich jemand einen Scherz erlaubt.«
»Was für einen Scherz?«, fragte Kirsten, während Jonas davonstob. »Was steht da?«
»Das ist dumm und unangemessen. Nicht der Rede wert.«
Aber Kirsten hatte nicht vor, sich diesmal durch Fredriks Tonfall beeindrucken zu lassen. Sie trat vor und tippte mit der Fingerspitze auf das letzte Wort. »Fredrik, ich will wissen, was da steht. Ich kenne dieses Wort; es stand in der Kopie des Berichts über Kristoffers Tod. Dieses Wort dort bedeutet ›sterben‹. Also, was steht da?«
Fredrik begann, mit dem Daumen über den ersten Buchstaben zu reiben. Er sah verärgert aus. »Da steht:
Bist du hier, um zu sterben?«
Kirstens Schwiegervater war 1936 als Fredrik Kristoffer Stolt in einem ärmlichen Viertel am Rande Oslos geboren worden. Sein Vater starb sieben Jahre später im Widerstand gegen die deutschen Besatzer; sein älterer Bruder verschwand im letzten Kriegsjahr spurlos. Die Schwester heiratete mit siebzehn einen Engländer, den sie nur zweimal gesehen hatte, und schrieb danach selten Briefe aus Manchester. Die Mutter arbeitete hart, damit Fredrik möglichst lange auf der Schule bleiben konnte; doch mit fünfzehn schuftete der Junge bereits dreißig Stunden die Woche im Osloer Hafen, wo er Kähne be- und entlud. Er war neunzehn, als er, angeheuert von Store Norske Spitsbergen Kulkompani, nach Longyearbyen kam. Er verbrachte drei Winter dort, ein einfacher Arbeiter in den Kohlegruben. Nach Weihnachten 1957 erhielt er einen letzten Brief von seiner Schwester aus Manchester, in dem sie ihm mitteilte, dass die Mutter an einer Blinddarmentzündung gestorben war. Seine Mutter hinterließ Fredrik nichts außer einem Briefumschlag mit
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