Ins Eis: Roman (German Edition)
Lebens, die eine Liste, aber keine Geschichte ergaben. Zum 75. Geburtstag seines Vaters hatte er sich deshalb etwas Besonderes überlegt: ein Album mit den Spuren von Fredriks Leben. Auch um dafür zu recherchieren, war Kristoffer im August nach Spitzbergen geflogen. Berichte von früher, Zeitungsausschnitte, vielleicht sogar alte Fotos oder gar Bekannte, Weggefährten von einst – er hatte nicht genau gewusst, was er finden würde. Es war ihm dabei auch um mehr als nur um ein Geschenk gegangen. Nach Jahren der sorgfältig gepflegten Distanz war Kristoffer nach Jonas’ Geburt wieder auf seinen Vater zugegangen. Das Album sollte der letzte Schritt sein.
Kirsten hatte nicht vor, Fredrik zu erzählen, wonach sein Sohn auf seinen letzten Reisen nach Spitzbergen noch gesucht hatte. Denn wem, so dachte sie, während sie über Jonas’ Haar strich, der friedlich an ihrer Seite schlief, wem nutzte es schon, wenn sie Kristoffers Unfall mit seinem Wunsch, den eigenen Vater zu verstehen, verband? Die Tragik zur Schau stellte, als ob sie einen Schuldigen suchte für ein Unglück, das sie nicht verstand.
Als Kirsten und Jonas am nächsten Morgen in der Lobby erschienen, stand Fredrik bereits mit einer Frau an der Rezeption. Sie war in Kirstens Alter und hatte flachsblondes, kurzes Haar. Fredrik stellte sie als Oda vor. Sie war die Chefin der Agentur, die das Geburtstagsprogramm veranstaltete. Oda lebte seit sechs Jahren auf Spitzbergen. Ihr Deutsch war fließend und ein wenig atemlos. Sie würde nächste Woche das Damenprogramm begleiten, während einer ihrer Mitarbeiter, ein Schweizer, die Herrentour führen würde.
»Das war einer der Gründe, weshalb Kristoffer diese Agentur ausgesucht hat«, erklärte Fredrik, bevor Kirsten fragen konnte, was denn nun überhaupt geplant sei. »Damit die liebe Verwandtschaft im Urlaub Deutsch sprechen kann.« Fredrik selbst sprach neben Norwegisch und Deutsch fließend Englisch und Französisch. Das Ergebnis langer Jahre mitternächtlichen Lernens.
»Es tut mir sehr leid wegen deines Mannes«, sagte Oda, während sie Kirsten die Hand schüttelte. Sie hatte einen festen warmen Griff. »Er war ein wunderbarer Mensch. Sein Tod hat uns sehr bestürzt.«
Kirsten fragte, ob sie Fredrik und Oda unterbrochen habe.
»Überhaupt nicht«, sagte Fredrik. »Wir haben nur über das Wetter geredet. Die Vorhersage ist nicht gut, um die null Grad und am Nachmittag Niederschlag. Sieht so aus, als würde ich meinen Plan für heute ändern müssen, aber eure Tour findet trotzdem statt.«
Kirsten fand, Temperaturen um den Gefrierpunkt klängen gar nicht so schlecht. Sie hätte nicht gedacht, dass es so warm werden würde, Golfstrom hin oder her. Der Wind hatte auf Südwest gedreht und blies nun warme Luft nach Spitzbergen, aber das konnte sich auch ganz schnell wieder ändern. »Spitzbergen ist für seine extremen Wetterwechsel berüchtigt«, bemerkte Fredrik. Kirsten sah ihn stumm an. Das wusste sie bereits. Sie hatte einen toten Ehemann, um das zu bezeugen.
Sie verließen Longyearbyen in Odas Kombi. Die Agentur hatte ihren Sitz in Adventdalen, einige Kilometer außerhalb. In der Stadt war es verboten, Hunde im Freien zu halten. Und selbst wenn dem nicht so wäre, erklärte Oda gut gelaunt, käme wohl nur ein Verrückter auf die Idee, mit sechzig Hunden in die Stadt zu ziehen.
»Sechzig Hunde«, wiederholte Kirsten, während sie an Jonas’ Mütze herumzupfte. »Das sind mehr Hunde als Kinder in deinem Kindergarten.«
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Kirsten. Ich habe die Agentur von einem Ehepaar übernommen, das selbst kleine Kinder hatte. Die Hunde sind an Kinder gewöhnt. Außerdem wird Jonas bei mir im Schlitten mitfahren, da kann überhaupt nichts passieren.«
»Ich habe keine Angst vor Hunden«, verkündete Jonas ein bisschen beleidigt. »Nicht mal vor großen.«
»Das ist gut, denn kleine Hunde gibt es bei uns nicht.« Oda lachte; sie schien überhaupt viel zu lachen. Sie hatte einen breiten, schön geschwungenen Mund und ein Lächeln wie Julia Roberts. Kristoffer war ein großer Fan der Schauspielerin gewesen.
Sie passierten ein Eisbären-Warnschild und fuhren in schnellem Tempo eine von Plastikstangen markierte Straße entlang. Vereinzelte Schneeflocken tanzten vom wolkenverhangenen Himmel zu Boden, dennoch reichte die Sicht bis auf die andere Seite des Tals und die Hänge der dort liegenden Eintausender. Nach wenigen Kilometern bog Oda nach rechts auf eine kurvige Zufahrt ein.
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