Ins Eis: Roman (German Edition)
Sie parkten weiter oben bei einem Haus, vor dem ein weißer Schlittenhund aus einer Hundehütte lugte. Beim Öffnen der Autotüren erhob er sich, streckte sich und bewegte seine buschige Rute sachte von einer Seite zur anderen.
Die Agentur bestand aus zwei Gebäuden, um die sich die Hundezwinger gruppierten. Vier weitere Gäste – zwei Iren, ein Schwede und ein Franzose – waren bereits eingetroffen und probierten eifrig Hosen, Stiefel und Jacken an. Kirsten fühlte sich in den Kleidern, die Oda für sie bereitlegte, wie das Michelin-Männchen, aber Oda bestand auf die Größe. Die Oberbekleidung dürfe nicht zu eng sitzen, damit man noch mehrere Schichten darunterziehen könne. Heute sei es warm, aber während des Geburtstagsprogramms würde sie noch Tage mit ganz anderen Temperaturen erleben und dankbar sein. Auf Kirstens Frage, was Fredrik denn nun überhaupt geplant hatte, legte Oda lediglich ihren Zeigefinger auf die Lippen und schüttelte lächelnd den Kopf.
Jonas brauchte Hilfe beim Anziehen. Als Kirsten sich bückte, um ihm die Schuhe zuzubinden, lief an der Tür ein junger Mann vorbei. Er nickte verhalten, doch bevor Kirsten auf den Gruß reagieren konnte, war er bereits im Nebenraum verschwunden.
Das Lager, in dem sie sich umgezogen hatten, grenzte an eine Werkstatt, und von dort ging es hinaus in den Innenhof. Kaum traten sie durch die Tür, begrüßte eine Kakophonie aus Bellen und Heulen die Besucher. Jonas hielt sich auffallend eng an Kirstens Beine, während sie den Zwingerhof durchquerten. Oda hatte nicht übertrieben: Etliche Hunde waren so groß, dass sie auf den Hinterbeinen stehend sogar Kirsten bis zur Nase reichten. Ein Drittel der Tiere trug grönländisches Blut in sich, erklärte Oda, alle waren Mischlinge verschiedener Hundeschlittenrassen.
»Hier, schau mal!« Oda winkte Jonas zu einem großen braun-schwarzen Rüden, der sich soeben noch aufgeregt gegen seine Kette geworfen hatte und nun an Oda hochzuspringen versuchte. »Das hier ist Bridgestone. Willst du ihn streicheln?«
Jonas trat tapfer vor und streckte Bridgestone seine Hand entgegen. Der Hund schnupperte daran; er stand mit einem Mal erstaunlich still.
»Es ist verblüffend, wie manche Tiere wissen, was sie bei wem machen können. Bridgestone ist mein Leithund; er zieht bei jedem Erwachsenen wie wild an der Leine, aber bei einem Kind läuft er brav wie ein alter Dackel.«
Sie ließen das Zwingerareal hinter sich und traten nach draußen, wo die Schlitten standen. Oda erklärte ihnen, wie diese funktionierten, zeigte ihnen die krallenbesetzte Hartbremse, die Matte zum weicheren Bremsen auf abschüssigen Hängen und wie sie die Anker setzen mussten, wenn sie anhielten. Die Hunde liefen immer dem Vordermann hinterher, erläuterte sie, sie müssten also nicht lenken, sondern sollten sich nur darauf konzentrieren, rechtzeitig zu bremsen, damit die Hunde nicht auf den Vordermann aufliefen oder ihn gar überholten. Oda selbst würde an der Spitze fahren, mit Jonas bei sich auf dem Schlitten, dahinter Kirsten, dann die zweite Frau der Gruppe und die drei Männer am Schluss. Jetzt begann das Hundeeinschirren. Mit Leinen bewaffnet zogen die Erwachsenen los und brachten einen Hund nach dem anderen zum Schlitten. Kirsten brauchte mehrere Anläufe, bis sie mit dem Geschirr zurechtkam, aber die Hunde zeigten eine unglaubliche Geduld. Als sie einem Husky zum dritten Mal die Pfote anhob, um sie durch das richtige Band zu stecken, nutzte der Hund die Gelegenheit und gab ihr einen feuchten Kuss auf die Wange. Jonas fiel fast um vor Lachen. Er kicherte noch mehr, als der Hund auch seine hingestreckten Finger ausgiebig abschlabberte. Unterdessen begann es heftiger zu schneien, große, unförmige Konglomerate aus mit Wasser aneinandergepappten Eiskristallen, die im leichten Wind wirbelten und auf Kleidung und Hundehaaren schmolzen.
»Hat Papa dir mal die Bilder von seiner Hundeschlittentour gezeigt?«, fragte Kirsten Jonas.
»Papa war Hundeschlitten fahren?«
»Ja, hier auf Spitzbergen. Das ist aber schon ein paar Jahre her, deshalb erinnerst du dich nicht daran. Damals warst du noch klein.«
»Ist Papa mit Bridgestone gefahren?« Er stolperte ein wenig über den ungewöhnlichen Namen.
»Ehrlich gesagt weiß ich das nicht. Aber es wäre schon möglich.«
»Wieso hat Papa keinen Hund gehabt?«
Kirsten kraulte ihren Leithund hinter den Ohren. Vega, die zweite Leithündin, drängte sich dazwischen und wollte ebenfalls gestreichelt werden.
Weitere Kostenlose Bücher