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Ins Eis: Roman (German Edition)

Ins Eis: Roman (German Edition)

Titel: Ins Eis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Nieberg
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mit Holz abgestützt, aber im Laufe der Zeit hatte der Querbalken nachgegeben. Der schräge Pfeiler, den Kirsten von unten gesehen hatte, war nur einer von zweien, die wohl einst über Kreuz den Eingang versperrt hatten, der zweite war herausgebrochen und auf die drei Meter breite Geländestufe vor dem Eingang gestürzt. An dessen vorderem Ende, den Kopf gegen das von verrosteten Nägeln gespickte Holz gelehnt, lag Fredrik. Er schien zu schlafen. Der unbedeckte Kopf mit dem dichten weißen Haar war zur Seite gesunken, die Augen geschlossen. Neben seinem Oberschenkel lag eine durchsichtige Dose mit Tabletten.
    Er trug keine Jacke.
    Jonas war der Erste an seiner Seite. »Opa!«, rief er, an seiner Schulter rüttelnd. »Opa, wach auf!«
    Fredriks Kopf schaukelte von links nach rechts. Die Hände in den dünnen Fingerhandschuhen hatten auf der Brust und dem ockerfarbenen Fleecepullover geruht, jetzt fiel eine schlaff nach unten. Kirsten sank neben Fredrik auf die Knie, fassungslos. Es schien ihr unmöglich, dass er so einfach gestorben sein sollte, eingeschlafen und mit dem Tod davonspaziert wie ein gewöhnlicher Greis. Sie wollte, sie musste ihn berühren, doch sie wagte es nicht, zu sehr graute ihr davor, die auskühlende Steifheit seines Körpers zu spüren.
    Die Jacke. Wie Kristoffer. Der Schnee, die Steine, das Land. Nur diesmal reine Kälte statt ein die Welt auslöschender Sturm.
    »Kirsten, er atmet, siehst du das nicht?«
    Tim stieß sie beiseite, fühlte nach Fredriks Puls. Das Gewehr hatte er abgelegt und den Reißverschluss seiner Jacke geöffnet. In den Taschen kramte er nach der Klettverschlusstasche mit dem Notpeilsender.
    »Sieh zu, dass du Fredriks Anorak findest!« Er begann, mit einem Ärmel aus seiner eigenen Jacke zu schlüpfen, mit der anderen schüttelte er den Peilsender aus seiner Umhüllung. Kirsten rappelte sich auf.
    »Leg den Sender beiseite, Tim.«
    Aus der Schwärze des Grubeneingangs schob sich Ingrid ins Freie. Ihr Gesicht unter der Kapuze leuchtete fahl. Der Schatten der Kohlemine schien ihr ein Stück weit aus dem Grubenmund hinterherzukriechen, bevor die schwindende Helligkeit der sinkenden Sonne ihn zurückschlug, ein Licht, das am intensivsten auf dem silbergrauen Schaft und der Mündung ihres auf Tim gerichteten Gewehrs glänzte.
    Diesmal waren Kirstens Reflexe schneller als Tims von Ungläubigkeit gebremste Reaktion. Sie langte über Fredrik hinweg und riss Jonas zu sich herüber. Tim stand in der Bewegung erstarrt, mit einem Arm noch in der Jacke, der andere Ärmel auf dem Boden schleifend.
    »Den Sender, Tim. Leg ihn weg. Dafür darfst du auch deine Jacke wieder zumachen. Fredrik braucht sie nicht.«
    Die Ungläubigkeit, mit der es Tim nur stückchenweise dämmerte, was vor sich ging, blieb Kirsten fremd. Der ewige Beobachter in ihr erlaubte weder Ausflüchte noch Verweigerung, sein kühler Blick ruhte auf Ingrid, analysierte, beurteilte und – am verräterischsten von allem – verglich. Kirsten wusste, in ihr gab es, all dem künstlerischen Spielen mit Farben und Motiven zum Trotz, einen Raum mit einer Geraden darin. Sie hätte gedacht, wenn es Kristoffer jemals in die Arme einer anderen Frau treiben würde, dann auf der Flucht vor der Absolutheit, der Unbeirrbarkeit dieser Linie. Welch ein Irrtum. Er hatte dasselbe in Ingrid gefunden, an einem Ort, dessen Weite an der Grenze zum Packeis seinen Anfang nahm, an dem die Absolutheit eines starken Willens die ihm angemessene Kulisse fand. Das Ende der Welt. Das Ende der Zufälle und Unfälle und Fragen, mit denen Kirsten nach Spitzbergen gekommen war.
    Die Sonne versank tiefer jenseits des Horizonts, und das sich verändernde Licht auf den Gipfeln Svalbards würde erst den Schnee, dann den Himmel blauvioletter Stille überlassen. Kirsten spürte die Decke der ewigen Ruhe über dem Tal. Die Essenz eines unbeteiligten Geistes, der scheinbar stets berührungslos an einem vorbeistreifte. Bis man seine Aufmerksamkeit erregte und den Irrtum bemerkte.
    Sie begegnete Ingrids Blick.
    »Du hättest nicht herkommen sollen, Kirsten. Nicht mit deinem Jungen. Mit Fredrik und seinen Söhnen sollte es genug sein.«
    Als Kirsten antwortete, stand die Herausforderung in flüchtigem Dampf vor ihren Lippen. »Du glaubst doch nicht, dass der Gouverneur auf ein weiteres Unglück hereinfällt?« Zwischen ihr und der anderen lag Fredrik. Sie tippte das Tablettenröhrchen mit der Fußspitze an. »Das wird kein Mensch glauben. Selbstmord. Nicht Fredrik

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