Ins Eis: Roman (German Edition)
sich der länglichen Kluft in der Eisdecke von deren schmaler Seite. Leichter Dampf hing in der Luft, dicht über der Oberfläche, wie Bodennebel. Beim Näherkommen verstärkte sich der Eindruck sich träge umwälzenden Wassers, in sich gefangen wie ein lautloser Pool, der keine Wellen warf. Das Kräuseln schien die Oberfläche sacht zu wölben.
Im Vergleich zur Luft würde das Wasser lau sein. Zumindest im ersten kurzen Moment, wenn es ihre Gesichter küsste. Bis es seinen Weg unter ihre Kleider fand und die dort eingeschlossenen warmen Luftpolster auslöschte. Dann, sofort, würde die Kälte wie Schmerz nach ihnen greifen. Es musste eine Strömung geben, wie ein Puls zirkulierte sie unter ihren Füßen, ein konstantes Lecken an der Stabilität des Eises. Würden sie unter das Eis gezogen werden, bevor sie, nach Luft schnappend, wieder hochkommen konnten? Wenn sie das Loch verfehlten, wenn verzweifelte Hände gegen die eisige Barriere über sich schlugen, würden sie über blassweißes Licht kratzen, der Abgrund unter ihnen endlos, ein Reich noch fremder und feindlicher als jenes, welches sie verließen. Ingrid würde ihnen ihren Motorschlitten nachschicken, aber bis dieser die Wasserfläche teilte und versank, würden sie bereits tot sein, ihre Münder zu einem letzten Atemzug geöffnet, zwei Grad kaltes Wasser in den Lungen.
Fünfzehn Meter von dem Übergang von Eis zu Wasser entfernt hielt Ingrid an. Tim fuhr herum, die Fäuste geballt, aber die Handschuhe nahmen der trotzigen Gebärde die Drohung. Nichtsdestotrotz richtete sich sofort das Gewehr auf seine Brust.
»Jonas«, sagte Ingrid. »Schickt Jonas zu mir.«
Kirsten schob ihren Sohn hinter sich. Eine weitere sinnlose Geste. »Wozu?«
»Ich bin nicht grausam, Kirsten. Du musst nicht zusehen, wie dein Junge stirbt.«
Kirsten schwankte. Erleichterung kämpfte mit Misstrauen. Hieß das, Ingrid würde Jonas nicht ins Wasser schicken? Oder erst nachdem seine Mutter und Tim gesprungen waren? Ingrid mochte Kinder, daran gab es keinen Zweifel. Und sie hatte sich um Jonas gekümmert. Womöglich würde sie ihn verschonen. Dem folgte der nächste Gedanke: Wenn sie sofort unter dem Eis verschwand, würde Jonas ihren Todeskampf nicht sehen. Sie musste nur tief genug tauchen. Zwei, drei Brustzüge, und sie wäre unter dem Eis, den Augen ihres Kindes entzogen.
Aber er würde verstehen, dass sie nicht mehr nach oben kam.
»Lass ihn gehen«, drängte Tim – auf Deutsch. Kirsten schüttelte den Kopf, nicht bereit, ihre Finger zu öffnen, Jonas’ Hand aus ihrer schlüpfen zu lassen, solange sie nicht sicher sein konnte, dass er nicht ins Wasser wandern würde, nach ihr, verzweifelt und allein bis zum letzten Atemzug. Hinter ihnen, am Rande des Wasserlochs, krachte das Eis.
Ingrid wartete mit demselben Gleichmut, den sie die ganze Zeit über an den Tag gelegt hatte, auf Kirstens Entscheidung. Tim, dessen Blick bislang auf Ingrid gerichtet gewesen war, drehte sich halb zu Kirsten. »Lass ihn gehen!«, wiederholte er genauso drängend wie zuvor. »Siehst du denn nicht?« Und dann, ganz schnell, immer noch auf Deutsch: »Schau nicht zu auffällig hin! Links hinter ihr, auf elf Uhr. Etwa zweihundert Meter.« Er verringerte den Abstand zwischen ihnen, bis sich ihre Schultern berührten. Um Jonas’ Reaktion auf seine Worte zu verdecken, wie Kirsten kurz darauf verstand.
In Ingrids Rücken, dort, wo Tim beschrieben hatte, bewegte sich der Schnee im bläulichen Licht des zu Ende gehenden Tages. Nein, nicht der Schnee, heller Pelz in gemächlicher, schwankender Bewegung, eine schwarze Schnauze knapp über dem Boden. Ein Spaziergänger in seinem Reich.
»Jonas, ich weiß, dass du ihn siehst, aber tu so, als würdest du ihn nicht sehen. Wie in einem Spiel, verstehst du? Du schaust immer nur uns oder Ingrid an. Und du tust alles, was ich dir sage. Genau, wie ich es dir sage.« Tim sprach unglaublich schnell, die Gelassenheit seiner sonst gedehnten Sprache wie weggefegt. Ingrid musste glauben, er redete auf Kirsten ein, drängte sie, Jonas gehen zu lassen, und tatsächlich tat er nichts anderes. »Verdammt, Kirsten, lass ihn gehen, das ist unsere einzige Chance!«
Kirsten öffnete ihre Finger. Jonas’ Hand fiel aus ihrem Griff. Er sah so winzig aus in den dicken Kleiderschichten, seine grüne Mütze mit dem weißen Plüschbommel tief genug gezogen, um seine Augen halb unter dem Saum verschwinden zu lassen. Um seine Mutter anzuschauen, musste er den Kopf ganz weit in den
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