Ins Eis: Roman (German Edition)
Stolt.«
Ingrid zuckte mit den Achseln, das Gewehr zuckte mit. »Du kennst deinen Schwiegervater womöglich nicht so gut, wie du glaubst. Dabei solltest du es mittlerweile besser wissen. Ich habe gehört, wie er dir im Krankenhaus von damals erzählt hat. Von dem Minenunglück. Ich habe gehört, wie du ihn nach seiner Schuld gefragt hast. Und jetzt seid ihr hier. Warum?«
»Wegen Fredrik.«
»Wegen der Wahrheit über ihn?«
»Nein. Nur wegen ihm.«
Die Gewehrmündung ruckte von Tims Brust zu Kirstens Kopf. Verharrte. Kirsten bedeckte Jonas’ Augen mit ihren Händen.
»Dein Mann, Kristoffer, er mochte unerschrockene Frauen.« Die Waffe schwenkte zurück. »Ich habe dir gesagt, du sollst deine Jacke zumachen, Tim. Und zieh von mir aus auch deine Handschuhe an. Nein, beweg dich nicht auf mich zu. Zieh einfach deine Klamotten an, und halt dich von deinem Gewehr fern.«
Tim kam der Aufforderung nach, mit abgehackten, bitteren Bewegungen. »Hast du von Fredrik Geld erpresst, und er wollte nicht zahlen?«
Ingrids Lachen wurde von der nächsten Steilstufe auf sie zurückgeworfen. »Geld? Du meinst, es ginge mir um Geld? Nein. Mein Vater. Meine Mutter. Die Kinder, die Fredrik mir genommen hat, bevor sie geboren werden konnten. Sind sie nicht Grund genug?«
»Um Fredrik zu töten?«
Jetzt schenkte Ingrid ihnen das verträumte Lächeln eines Menschen, der das Erreichte in seinem ganzen Ausmaß erfasste. »Schaut euch um. Ist es nicht schön hier? Mit der zweiten Hälfte des Winters kommt die Kälte und bringt dir das Licht. Ich habe von Fredriks Tod geträumt, seit ich ein Mädchen war. Er hat gelogen, sein Leben auf einer Lüge gebaut. Er hat meinen Vater getötet, um selbst leben zu können. Er hat alles zerstört.«
Die Worte erreichten ihre Zuhörer ohne weinerliches Klagen. Verrückt würde die Gesellschaft sie nennen, von verquerer Rache getrieben. Kirsten wusste es besser. Ingrid war so akkurat, so unbeeindruckt wie immer. Keine Getriebene. Eine Angekommene.
»Und seine Söhne?«
»Er hat ihren Tod erlebt. Wie ich. Es verändert dich, wenn alle, die du liebst, vor dir sterben. Selbst die, die du nie kennengelernt hast. Du hast es nicht gesehen, Kirsten, aber im Herbst, da gefriert hier das Eis in kleinen Tümpeln. Wassergefüllte Mulden im Boden. Manchmal geschieht es, dass das Eis konzentrisch gefriert. Aber nicht nur in Kreisen. Auch in Herzen. Gefrorene Herztümpel. Wie Baumringe sehen sie aus, außen sind die Eisringe weiß, im Inneren dunkel. Viele Herzen in einem. Wie Matrjoschkas. Russische Puppen. Es bringt Glück, so einen zu finden, Unglück, sie zu zerbrechen.«
»Dann hast du sie getötet.«
»Erland war ein Geschenk. So fasziniert von Waffen, die für andere Männer als ihn gefertigt wurden. Dann der Schneesturm, das leere Zelt. Ich musste nur zu ihm sagen, komm, Erland, ich zeig dir das Gewehr. Lehn dich vor, hier siehst du …«
»Die Polizei wird dahinterkommen«, brach es aus Tim hervor. »Lass uns gehen – und Fredrik. Du kannst nichts mehr gewinnen.«
»Fredrik bleibt hier. Es gefällt ihm hier, er hat diesen Ort selbst gesucht. Sieht er nicht zufrieden aus? Er meinte, er könne seine Schuld sühnen. Das arme Mädchen. Tu Gutes, Fredrik Stolt. Hilf ihr, unterstütze sie. Menschen wie er, Kirsten, sie verstehen nicht, dass Geld bedeutungslos ist.«
Jonas strampelte in Kirstens festem Griff. Sie hob ihn hoch, er wollte wissen, worüber sie sprachen, und warum Ingrid mit dem Gewehr auf sie zeigte, das dürfe sie doch nicht, oder doch?
»Kristoffer«, fragte Kirsten. »War er auch ein Geschenk?«
»Kristoffer? O ja. Das größte Geschenk, so unverhofft. Diese Möglichkeiten! An Kristoffer habe ich geplant. Und gelernt.«
»Erzähl mir von ihm.«
Und Ingrid begann zu erzählen.
Während Kirsten ihrem Bericht über Kristoffers Tod lauschte, löste sich ein Brocken von den sich über ihnen auftürmenden Gesteinsschichten. Er klackte und holperte auf seinem steilen Fall nach unten, prallte wenige Meter entfernt auf die Reste einer alten Lore mit käfergleich in den Himmel ragenden Rädern. Von dort rollte er den Hang hinab, zeichnete eine faustgroße Fährte neben die schwerfälligen Spuren, die sie auf ihrem Weg nach oben hinterlassen hatten. Es schien unmöglich, wie sich in dieser verlassenen Ruhe etwas bewegen sollte, ohne angestoßen zu sein, doch wer sich der Illusion ergab, das Land sei geduldig, irrte.
Die Zehen in Kirstens Stiefeln kühlten aus; statt drei Paar Skisocken trug
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