Ins Eis: Roman (German Edition)
das sich beim Reden bewegte. Nachdenklich wiegte sie den Kopf. »Ich dachte, Kristoffer hätte es vernichtet. Das hat er zumindest behauptet, ganz der loyale Sohn. Komm, Kirsten, wirf es rüber!«
Der Bär hatte die Distanz zu ihnen halbiert. Das Notizbuch flatterte mit wehenden Seiten durch die Luft und fiel vor Ingrid in den Schnee, die offene Seite nach unten. Als ob es jemand aufgeschlagen und dann beiseitegelegt hätte.
In diesem Augenblick wurde der Eisbär zum Jäger. Die Änderung seiner Geschwindigkeit erfolgte lautlos und fließend, strafte die vorgeblich träge Masse des größten Landraubtieres der Welt Lügen. In einem Moment trottete er noch in seinem schwankenden Gang auf Jonas zu, dann war er in vollem Lauf, die mächtigen Vordertatzen flogen, eine halbe Tonne Tod, unter der das Eis des Fjords dahinschmolz.
Jonas wartete nicht auf Tims Ruf. Seine Hände fielen herab, er wirbelte herum und sauste so schnell ihn seine kurzen Beine trugen zurück. Ingrid hatte nicht bemerkt, wie Tim und Kirsten erstarrten, wie sich ihre Münder zu einem Schrei öffneten. Sie war vor dem Notizbuch in die Knie gegangen, um es aufzuheben, als Jonas in zwei Metern Abstand an ihr vorbeischoss. Aufspringend beobachtete Ingrid verblüfft, wie er sich in Kirstens Arme warf. Kirsten und Tim machten drei große Schritte zurück, Jonas mit sich ziehend, näher auf das offene Loch im Wasser zu. Ingrid lächelte zufrieden. Bis sie das Grauen auf ihren Mienen sah.
Der Untergrund vibrierte dumpf unter den Sätzen des angreifenden Eisbären. Ingrid fuhr herum. Der Bär war keine fünfzehn Meter von ihr entfernt. Zu nah, um das Gewehr hochzureißen und zu zielen. Sie feuerte sofort, aus Hüfthöhe. Der Schuss peitschte durch die Luft, das große Kaliber riss ein Stück Fell aus der rechten Schulter des Bären. Zum Nachladen fand sie keine Zeit mehr.
Das Knirschen von Schnee und ein schwaches Dröhnen brachten das Eis zum Seufzen, als der Eisbär den letzten Meter zu seinem Opfer überwand. Ein Wirbel aus Weiß, Orange und Schwarz, Pranken auf blaugrüner Jacke. Kirsten presste Jonas’ Gesicht gegen ihren Bauch. Tim hatte ihren Oberarm umklammert, hielt sie fest, damit sie sich ja nicht umdrehte und davonrannte. Ingrid war gänzlich verschwunden unter der wogenden Masse aus weißem Pelz. Tiefes Grollen und ein scharfer Raubtiergeruch umwehten sie.
»Schau ihm nicht in die Augen«, flüsterte Tim. Er zog sie näher auf das Wasserloch zu. Das dünner werdende Eis unter ihnen krachte, das berstende Geräusch ließ den Bären aufschauen. Kirsten, Tim und Jonas erstarrten in ihren Bewegungen. Atmeten nicht mehr. Kirsten spürte die schwarzen Augen des Bären auf sich, abwägend, ob sie einen Angriff wert waren, gleichgültig angesichts ihrer lächerlichen Leben. Seine Schultern schoben sich vor. Er kauerte. Und dann, übergangslos, attackierte er sein unter sich begrabenes Opfer erneut. Sein Maul riss Ingrid ein Stück weit in die Höhe, die Vordertatzen schlossen sich um ihren Körper. Frau und Bär – wie Tänzer aufgerichtet in inniger Umarmung, ehe der Bär abermals von oben über Ingrids Körper hereinbrach. Das zweite Gewehr, Tims Gewehr, flog davon. Tim schob Kirsten und Jonas drei, vier, fünf, sechs Schritte weiter, zur Seite und in Richtung Ufer.
Sie hörten das Knacken, mit dem Ingrids Schädel brach.
Sie hatten die Längsseite des Wasserlochs erreicht. Zwischen ihnen und dem Eisbären lagen nun ein paar Meter offener Fjord. Das Tier schaute ein weiteres Mal zu ihnen, das schwarze Maul geöffnet, eingefasst vom roten Saft des bevorstehenden Mahls. Ingrids Blut sprenkelte seinen Pelz, die Krallen, den Schnee. Schritt für Schritt schoben sich die drei Menschen weiter von ihm fort. Der Bär beobachtete sie, sein Gewicht auf Ingrids Leiche. Aber er griff nicht an.
Nach fünfzig Metern erlaubte Tim Kirsten und Jonas, dem Bären den Rücken zu kehren und langsam weiter in Richtung Flusstal zu laufen. Jonas hatte die Hände um den Nacken seiner Mutter geschlungen, die Ärmchen pressten so sehr, dass Kirsten fast keine Luft mehr bekam, sein Gewicht sie jedoch auch kaum nach vorne zog. Auf ihrem Ellenbogen spürte sie Tims Hand, wachsam, damit sie bloß nicht stolperte und die Aufmerksamkeit des weißen Jägers auf sich zog. Sie erreichten die Verwerfungen am Talende, kämpften sich eine schneebedeckte Flanke empor und stürzten fast auf der anderen Seite den Hügel herunter, mit weichen Knien vor Erleichterung, ein erstes
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