Ins Eis: Roman (German Edition)
die anderen schlossen auf. Während das Schneemobil schon wieder weiterbrauste, verließ Oda ihren Schlitten und lief die einzelnen Teams ab. »Weiter oben ist kein Durchkommen mehr. Tim hat gerade schon einen anderen Fahrer aus dem Schnee gezogen. Wir müssen umdrehen. Das war’s für heute.«
So gerne Kirsten das Ziel ihrer Tour, die Eishöhle, erreicht hätte, die Nässe und die schlechte Sicht hatten ihrer anfänglichen Euphorie einen Dämpfer verpasst. Dabei fror sie nicht einmal. Sie spürte nicht die in die Knochen dringende Kälte, die Kristoffer gefühlt haben musste, bevor er starb. An jenem Tag mussten ebenfalls solche nassen, schweren Flocken gefallen sein, es hatten in etwa dieselben Temperaturen geherrscht. Nur dass Kristoffer alleine unterwegs gewesen war und ohne Winterausrüstung. Er war der klammen Kälte ungeschützt ausgesetzt gewesen. Mehr noch, in dem Bericht über die Auffindung seiner Leiche stand, die Suchmannschaft habe ihn ohne seine Jacke gefunden.
Kirsten war nach Spitzbergen gekommen, um zu verstehen, wie ihr Mann gestorben war. Alles, was sie jetzt tun musste, war, ihre Jacke auszuziehen. Sie zögerte. Dann schlug sie die Kapuze zurück, nahm Schneebrille und Gesichtsmaske ab und reckte ihr ungeschütztes Gesicht in Fahrtrichtung.
Den Rückweg legten sie ohne weitere Pausen zurück.
In der Agentur hängten sie die nassen Kleider vor den Kamin und wärmten sich mit Tee und Kaffee. Oda hatte einen Blick auf Kirstens fleckiges Gesicht und ihr feuchtes Haar geworfen und sie mit Jonas sofort reingeschickt. Im Schränkchen unter dem Waschbecken im Bad sei ein Föhn. Sie und die anderen würden sich um Kirstens Team kümmern und die Hunde ausschirren. Oda hatte keine weiteren Fragen gestellt, was Kirsten nur recht war. Ihr albernes Experiment hatte ihr außer schmerzenden Ohren keine tieferen Erkenntnisse über Kristoffers Tod beschert.
Der Wetterbericht hatte rasch fallende Temperaturen und für den kommenden Tag blauen Himmel gemeldet, was bei einem Blick aus dem Fenster unvorstellbar schien. Jonas bettelte, er wolle wieder mit den Hunden fahren, doch Kirsten hatte einen Termin mit dem Gouverneur von Svalbard, den sie nicht absagen würde. Fünf Monate lang hatte sie darauf gewartet, endlich nachvollziehen zu können, wie und warum Kristoffer gestorben war – Fragen, die kein förmlicher Schriftverkehr beantworten konnte.
Im Laufe des Nachmittags hörte es auf zu schneien. Während sich Oda in die Küche begab, folgten die Gäste einer Mitarbeiterin in die Zwinger, wo die Hunde auf ihr Fressen warteten. Jonas war entzückt, bei der Fütterung dabei sein zu dürfen, aber Kirsten verspürte den Drang, sich noch ein wenig zu bewegen, und wollte lieber eine Runde um die Gebäude drehen. Jonas hatte keine Lust, sich ihr anzuschließen, auch keiner der anderen Gäste. So trat sie schließlich allein durch eine Tür im Maschendrahtzaun nach draußen in das schwächer werdende Licht des fortgeschrittenen Tages.
Der Wetterbericht schien recht zu behalten: Die Brise in ihrem Gesicht fühlte sich bereits deutlich kühler an als am Mittag, und im Osten klarte es auf. Kirsten folgte dem Verlauf der Zwingeranlage ein Stück den Hang hinauf, die frische Auflage feuchten Schnees knarzte unter ihren Schritten. Oberhalb der Gebäude blieb sie stehen, um sich zu orientieren und zum ersten Mal mit allen Sinnen die Landschaft um sich herum auf sich wirken zu lassen. Bei ihrer Ankunft war sie ganz auf das Stadtbild konzentriert gewesen: Schneemobile, Langläufer und Fußgänger mit Gewehren auf dem Rücken, wegen des Permafrostbodens auf Stelzen errichtete Gebäude und Rohre entlang nicht geräumter Straßen. Die düsteren Ruinen der Minenindustrie an den steilen Bergflanken, die Münder der Grubeneingänge, die Seilbahnen mit ihren hölzernen Stützen und Reste von alten Kohlesilos. Am Abend auf dem Weg zum Restaurant hatten die durch Schneeverwirbelungen verwaschen konturierten Bergflanken ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen: Farben, Silhouetten, welche kein Foto einzufangen vermochte. Jetzt erst spürte sie selbst mit geschlossenen Augen die Weite um sich herum. Das breite Tal, über dessen Ende sich tiefblaugraue Wolken schoben, stieß auf der anderen Seite an steile Berge mit fast waagrecht verlaufenden Gipfelplateaus. Horizontal gelagerte dunkle Gesteinsschichten unterteilten die überzuckerten Hänge in Streifen, ein Wechselspiel von Hell und Dunkel, das die karge Schönheit von Fels und Gestein
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