Ins Eis: Roman (German Edition)
zwischen Handschuhen und Ärmeln an ihre Haut. Sie rappelte sich auf, machte einen weiteren Satz nach vorne, kämpfte sich zunehmend verzweifelt mit schaufelnden Bewegungen durch den Schnee. Sie hatte den Trail verloren. Verdammt, wie blöd musste man sein! Nun steckte sie im Tiefschnee fest, während der Bär …
Ein fester Griff um ihren Arm, sie wurde hochgezogen. Im selben Moment hatte sie wieder Boden unter den Füßen, eine Autozufahrt. Odas Mitarbeiter schob sie hinter sich, es ploppte, dann der Feuerschweif eines Leuchtkörpers, gefolgt von einem scharfen Knall, als die Signalpatrone wenige Meter vor dem Eisbären zündete. Das Tier stoppte abrupt, fuhr herum und trabte hastig davon. Der Mann lud eine weitere Patrone nach. Das Gewehr hing wie zuvor über seiner Schulter, jetzt jedoch von seiner Hülle befreit. Schießbereit.
»Wenn sie so nahe sind, muss man aufpassen, dass man nicht aus Versehen über den Bären hinwegschießt«, sagte er, ohne das Tier aus den Augen zu lassen, das seinen Lauf verlangsamt hatte, aber keine Anstalten machte zurückzukommen. »Wenn der Knall hinter dem Bären zündet, würde ihn das bloß auf einen zutreiben, und das möchte man ja gerne vermeiden, oder?«
Er sprach mit einem angenehm beruhigenden Schweizer Akzent. Der Nachbar, mittlerweile ebenfalls bewaffnet, schloss zu ihnen auf, die beiden Männer wechselten ein paar Worte. Danach blieb der Nachbar zurück und verfolgte den Abgang des Bären. In der Tür zum Agenturgebäude war unterdessen Oda erschienen. Sie hielt sich ein Handy ans Ohr und sprach rasch, ein Fernglas in der anderen Hand.
»Oda telefoniert mit dem Büro des Gouverneurs«, erklärte der Schweizer. »Sie werden diesen Bären beobachten und sicherstellen, dass er sich von den Häusern fernhält, also kein Grund zur Besorgnis.«
Kirsten hatte noch immer nicht ihre Sprache wiedergefunden. Die übrigen Gäste drängten nach draußen, ein jeder mit mindestens einer Kamera bewaffnet, zwischen ihnen schob sich Jonas hindurch. Völlig aus dem Häuschen wollte er sofort wissen, ob Kirsten den Eisbären gesehen habe. Dort, er fuchtelte in den Himmel, vom Fenster aus habe er ihn gesehen.
»Ja, ja, ich habe ihn auch gesehen.« Sie ließ sich auf die Stufen zur Eingangstür fallen. »Er war sogar ganz nah.«
»Das ist gemein!« Jonas stampfte mit dem Fuß in den Schnee. »Ich will ihn auch von nah sehen!«
»Du siehst bestimmt noch viele Eisbären.« Kirstens Retter streifte sie mit einem amüsierten Blick und streckte ihr die Hand hin. »Ich bin übrigens Tim.«
»Kirsten. Und das kleine Monster hier ist Jonas.«
»Hallo, Jonas.«
»Hallo. Hast du geschossen? Ist das eine echte Pistole?«
»Ich glaube, wir essen erst einmal.« Oda hatte ihr Telefonat beendet. »Der Lachs ist wahrscheinlich angebrannt, aber das Gemüse sollte noch genießbar sein.« Sie drückte Kirstens Schulter. »Willkommen auf Svalbard, Kirsten!«
Bis zum Dessert hatte sich Kirsten wieder einigermaßen gefangen. Tim saß neben Jonas, dessen Herz er sofort erobert hatte. Der Junge löcherte ihn mit Fragen; die meisten hatten mit Eisbären und Waffen zu tun. Tim war neunundzwanzig und damit drei Jahre jünger als Kirsten, was sie überraschte, denn sie hätte ihn älter geschätzt. Tim meinte, das liege am Bart, dabei hatte Kirsten es eher von den Fältchen um seine Augen abgeleitet, charakteristisch für einen Menschen, der viel Zeit im Freien verbrachte, jedoch selten eine Sonnenbrille trug. Er hatte eine zurückhaltende, scheue Art und ein lautloses Lachen. Als gelernter Mechaniker war er saisonal viel auf Montage im Ausland gewesen. Vor zwei Jahren hatte sein Chef Pleite gemacht, und seitdem arbeitete er hauptberuflich als Tourguide und Skilehrer. Die Zeit von Februar bis Anfang Mai und von Juni bis September verbrachte er auf Spitzbergen, im Dezember und Januar verdiente er sein Geld als Skilehrer in der Schweiz, und im Herbst organisierte er mit Freunden ein Fernwehfestival in St. Gallen. Auf Spitzbergen führte er Touren mit Schneemobil, Skiern sowie Hundeschlitten und im Sommer zu Fuß und per Kajak.
Ob Tim auch mit seinem Papa auf Tour gewesen war, wollte Jonas wissen.
Tim blickte etwas ratlos in die Runde.
»Kristoffer Stolt«, sprang Oda ein, ihr Gespräch mit den anderen Gästen kurz unterbrechend. »Jonas ist sein Sohn, Kirsten seine Frau.«
»Ah, okay.« Tim hatte gerade Zigarettenpapier mit Tabak gefüllt, jetzt spielten seine Finger mit den Enden des Papiers. »Ja, ich
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