Ins Eis: Roman (German Edition)
bin mit deinem Vater unterwegs gewesen. Einmal, auf einer Kajaktour. Das war eine gute Gruppe. Ich weiß das noch, weil wir damals stundenlang Walrosse beobachtet haben.«
»Was sind Walrosse?«
Tim stand auf, trat zu einem Bücherregal und zog ein Tierlexikon heraus, das er aufschlug und, auf ein Bild tippend, Jonas reichte. Dann ging er zum Rauchen nach draußen. Unterdessen packten die anderen Touristen ihre Sachen zusammen. Im Auto war nicht mehr genügend Platz für Jonas und Kirsten, aber Kirsten sagte, es mache ihnen nichts aus, erst mit der zweiten Fuhre nach Hause gebracht zu werden. Zum Abschied gaben sich alle die Hand. Der Schwede, ein dünner älterer Herr mit Glatze, schien ihren Nachnamen beim vorherigen Gespräch aufgeschnappt zu haben, jedenfalls fragte er Kirsten, ob der Mann aus dem Artikel in der Zeitung ein Verwandter von ihr sei: Fredrik Stolt.
Kirsten wusste nichts von einem Artikel.
»Es ging um einen Mann, der seinen Geburtstag hier feiert. Es stand im Svalbardposten . Das ist die örtliche Zeitung hier, angeblich die nördlichste der Welt.« Er habe das Blatt im Café gelesen, erzählte er weiter, als Schwede konnte er Norwegisch gut verstehen. Ein paar Tische weiter hätten Einheimische gesessen, die sich über den Artikel auf der letzten Seite unterhielten. Aber das interessiere sie wahrscheinlich gar nicht?
Kirsten wartete höflich ab. Der Schwede hielt noch immer ihre Hand. »Einer der Männer am Tisch ist sehr wütend gewesen. Fredrik Stolt, der sei für den Tod von Menschen verantwortlich, und jetzt würde er zurückkommen und ein Tamtam aus seinem Geburtstag machen, weil er nicht den Anstand hatte, früher zu sterben.« Er sah Kirsten in die Augen. »Wissen Sie vielleicht, was er meinte?«
»Ich habe keine Ahnung.« Sie zog ihre Hand zurück, fast mit Gewalt. Sie war verärgert genug, um hinzuzufügen: »Ist es hierzulande nicht unhöflich, sich derart für anderer Leute Angelegenheiten zu interessieren?«
»Der Mann an dem Tisch hat fast geschrien, das konnte man nicht überhören, selbst wenn man wollte.«
Sie schien dennoch einen wunden Punkt getroffen zu haben, denn der Schwede nuschelte danach bloß noch einen knappen Abschiedsgruß und schob sich an ihr vorbei ins Freie.
Fünf Minuten später war Oda mit den Touristen fortgefahren. Jonas hatte sich ein weiteres Buch aus dem Regal gezogen, einen Bildband über die frühen Arktisreisenden. Während er die Seiten durchblätterte, kam Tim vom Rauchen zurück. Er rieb sich die Hände über dem Ofen, dann setzte er sich neben Jonas auf die Couch. Zusammen beugten sie sich über das Buch. Bei einem Bild rief Jonas plötzlich, das sehe aus wie ein Foto von seinem Papa, und Kirsten musste in ihrem Rucksack nach der Brieftasche kramen und das Foto von Kristoffer vor dem Gletscher präsentieren. Tim sagte, er wisse, wo das Bild aufgenommen worden sei, es handele sich um ein beliebtes Touristenziel. Die alte Aufnahme, die Jonas im Buch aufgefallen sei, sei allerdings nicht dort gemacht, sondern auf Grönland. Damals habe es einen regelrechten Wettlauf zum Nordpol gegeben. Jeder Abenteurer habe, angetrieben von der Aussicht auf Ruhm und Ehre, der Erste sein wollen. Die Frage, wer tatsächlich die Nase vorne gehabt hatte, sei bis heute nicht entschieden.
Während er sprach, reichte Tim Kirsten die Aufnahme ihres Mannes zurück. Wie immer, nachdem Jonas das Foto in den Fingern gehabt hatte, zierte ein fettiger Fingerabdruck Kristoffers Gestalt. Seufzend wühlte Kirsten nach einem Brillenputztuch.
»Anhand des Sonnenstandes und der Schatten auf den Expeditionsfotos konnte man überprüfen, wie weit ein Mann tatsächlich nach Norden vorgestoßen war, oder ob er vielleicht gelogen hatte«, erklärte Tim weiter. »Denn zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sind Sonnenstand und Schatten ganz charakteristisch. Es lohnt sich also, die Beweisfotos, die die Teilnehmer von ihren Expeditionen gemacht haben, ganz genau anzuschauen. Denn sonst hätte ja jeder ein Foto auf einem beliebigen Schneefeld knipsen und behaupten können, er hätte den Nordpol erreicht oder wäre ihm näher gekommen als je ein lebender Mensch zuvor.«
Kirstens Finger mit dem Putztuch erstarrten über der Fotografie ihres Mannes.
Sie lehnte sich vor, bis der Lichtschein der Lampe direkt auf das Bild fiel.
Auf dem Foto fehlte ein Schatten. Der des Eispickels. Er hätte sich parallel zu Kristoffers Körperumriss nach hinten erstrecken müssen, selbst das
Weitere Kostenlose Bücher