Ins Eis: Roman (German Edition)
Wenn Kirsten die Finger in das Fell mit der dicken Unterwolle grub, die es den Hunden erlaubte, bei jedem Wetter im Freien zu bleiben, konnte sie die Wärme des kräftigen Körpers darunter spüren. Jonas wiederholte seine Frage, und diesmal verstand Kirsten, was er hatte sagen wollen: Mit einem Hund an seiner Seite wäre Kristoffer noch da. Schließlich gingen so die Geschichten in den Kinderbüchern und Fernsehsendungen aus. Kirsten dachte, mit einem Hund wäre Kristoffer zumindest nicht allein gestorben. Und vielleicht, vielleicht nur, hätte die Wärme eines lebendigen Wesens ausgereicht, um ihn einige Stunden länger am Leben zu halten.
Sie starrte hinunter ins Tal, wo ein einzelner Langläufer in Richtung Stadt unterwegs war. Trotz des Gewehrs auf dem Rücken wirkte die Gestalt zerbrechlich, ein aus Stecken zusammengesetztes, fellloses Männchen, von der Natur mit nichts ausgestattet, was ihm in diesen Breitengraden das Überleben ermöglichte, außer einem genialen Gehirn. Wie wenig doch nötig war, um das gefährlichste Tier der Erde zur Strecke zu bringen. Es reichte, ihm seine Kleider zu nehmen. Es alleine zu lassen. Es für einen Tag zu vergessen.
In der Zwischenzeit waren alle Teams eingeschirrt. Jeder Schlitten wurde von sechs Hunden gezogen, nur vor Odas Schlitten reihten sich paarweise zehn Huskys. Die Agenturchefin steckte allen Mushern, wie man die Hundeführer nannte, noch einen Zettel mit den Namen ihrer Hunde zu, dann gab sie das Zeichen zum Aufbruch. Jonas kletterte in den roten Sack auf Odas Schlitten und winkte dabei in Kirstens auf ihn gerichtete Kamera. Oda packte den Jungen mit zwei Decken gut ein, bis von ihm nicht mehr zu sehen war außer den großen runden Augen hinter der Skibrille. Kirsten gefiel die aufgeregte Atmosphäre; sie erinnerte sie an die Zeit, als sie noch Rennen geritten war. Die Hunde warfen sich in das Geschirr, wild darauf, endlich loszulegen. Die Schlitten, von zwei Ankern gehalten, ruckten unter der geballten Kraft, mit der sich die Tiere nach vorne katapultierten, und dann war das vorderste Team mit Oda und Jonas auch schon fort. Kirsten, an zweiter Position, sprang ebenfalls auf. Der Ruck, mit dem der Schlitten sich in Bewegung setzte, hätte sie beinahe abgeworfen, noch ehe sie die Anker mit ihren scharfen Krallen sicher verstaut hatte. Danach jedoch entpuppte sich das Hundeschlittenfahren als erstaunlich einfach: Es gab keine engen Kurven und – ein Vorteil Spitzbergens – keine Bäume, an denen man hängen bleiben konnte. Die Hunde liefen automatisch Odas Gespann hinterher. Nach einiger Zeit ließ Kirstens Anspannung nach, und sie konnte sich auf andere Dinge außer auf den Schlitten, das Bremsen und die fliegenden Pfoten der Hunde konzentrieren. Erst jetzt bemerkte sie, wie schlecht die Sicht geworden war. Pappiger Schnee wirbelte in großen Flocken, die auf Jacke und Mütze schmolzen, dahin. Alles war nass, von ihren Handschuhen bis zur Nasenspitze und den Augenbrauen, ihre Gesichtshaut prickelte und spannte. Bei der ersten kurzen Pause nutzte Kirsten die Gelegenheit, sich Schneebrille und Gesichtsmaske überzustülpen.
Im Schneetreiben war es schwer, ein Gefühl für Zeit und Geschwindigkeit zu bewahren, von Orientierung ganz zu schweigen. Sie hätte es wahrscheinlich nicht einmal gemerkt, wenn sie im Kreis gefahren wären. Irgendwann wurden sie von einem Schneemobil überholt und stoppten, damit Oda mit dem Fahrer sprechen konnte. Danach fuhr der Motorschlitten voraus und verschwand im Gestöber. Das Wetter wurde von Minute zu Minute ungemütlicher. Ohne ihre beschichteten Jacken wäre die Feuchtigkeit durch ihre Kleider und unter ihre Haut gesickert; so war die Nässe zwar unangenehm, doch im Kern blieben die Musher warm. Auf Kirstens Schultern, Armen und Handschuhen hatte sich eine Decke klebrigen Schnees gebildet, der haften blieb, wenn sie sich bewegte. Ein Blick zu den anderen Mitgliedern der Gruppe zeigte ihr eine Ameisenstraße aus Menschen und Hunden, die sich von Minute zu Minute mehr in Yetis verwandelten.
Sie fuhren eine weitere Viertelstunde bergauf, bis ihnen erneut das Schneemobil entgegenkam. Der Fahrer und Oda wechselten abermals ein paar Worte, woraufhin der Motorschlitten einen großen Bogen beschrieb und schließlich hinter dem letzten Gespann zum Halten kam. Der Fahrer stieg ab, folgte der eigenen Spur bis zu Odas Leithunden und begann, Bridgestone hinter sich herzuziehen, bis das ganze Team der gespurten Wendekurve folgte. Kirsten und
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