Ins Eis: Roman (German Edition)
noch unterstrich.
Präsenz, dachte Kirsten, das war das Wort, mit dem sie die Wirkung der Inselgruppe auf sich beschreiben würde. Das Land war ständig präsent, selbst wenn es wie heute Nachmittag hinter Schneetreiben verborgen war, selbst in den Straßen Longyearbyens blieb es allgegenwärtig. Schon im Flugzeug, ja sogar noch während der Reisevorbereitungen in Deutschland, hatte es nach ihr gegriffen. Svalbard, die Kalte Küste. Sie hatte geglaubt, ihre Besessenheit sei mit Kristoffers Tod zu erklären, aber vielleicht nahm Spitzbergen einen Teil im Kopf eines jeden Reisenden ein, mehr noch als andere Destinationen, lange bevor die Reise überhaupt begann. Der Ruf des Endes der Welt, wo die eigene Sterblichkeit nackt stand angesichts der Selbstverständlichkeit einer Naturgewalt.
Kirsten stieg noch ein wenig höher, um ein Foto der Zwinger vor der Berg- und Talkulisse zu machen. Das Hundebellen, welches die Fütterung begleitet hatte, war verklungen, ein Auto kurvte den Hang hinauf zur Agentur. Sie stellte den Fotoapparat auf Videomodus und drehte sich während der Aufnahme einmal um dreihundertsechzig Grad. Vier Punkte erschienen im Fokus des Displays: Rentiere, keine zweihundert Meter von den Gebäuden des Nachbarn entfernt. Kirsten bedauerte sofort, dass sie nicht die Spiegelreflexkamera mit dem Teleobjektiv bei sich trug. Sie schaute sich um, wollte Jonas herbeirufen, doch die Gruppe war wieder nach drinnen gegangen. Selber schuld. Kirsten trabte los, den festgefahrenen Spuren des Schneemobil- und Hundeschlittentrails folgend. Die Rentiere trotteten langsam mit gesenkten Köpfen in Richtung Straße. Immer wieder blieben sie stehen, um am Boden nach Essbarem zu suchen. Daher konnte Kirsten zügig zu ihnen aufschließen. Beim nächsten Blick auf das Fotodisplay konnte sie bereits Kopf und Beine unterscheiden. Mit der Kamera vor der Brust lief sie weiter.
Kurz darauf hob eines der Rentiere seinen geweihlosen Schädel. Es schien Witterung aufgenommen zu haben, jedoch nicht in Kirstens Richtung, sondern in Richtung einer Stelle rechts von ihr. Ein wunderbares Motiv, als ob das Tier extra für sie posierte. Hastig drehte Kirsten an den Einstellungen des Fotoapparats, doch bevor sie weitere Aufnahmen machen konnte, verfielen alle vier Rentiere in einen aufgeschreckten Trab. Enttäuscht ließ Kirsten ihre Kamera sinken.
Sekunden später schlugen die Hunde an. Kirsten sah nach rechts.
»O Scheiße«, flüsterte sie.
Der Eisbär trottete direkt auf sie zu. Er war über einem Hügel erschienen, oberhalb der weit verstreuten Gebäude. Das Haus von Odas Nachbarn lag schräg links von Kirsten, die Agentur hinter ihr. Der Eisbär war ihr näher als sie den rettenden Häusern. Von den Zwingern her kam ein Mann auf sie zu, sie hatte ihn zuvor im Flur des Agenturgebäudes gesehen, später auf dem Schneemobil mit einem Gewehr auf dem Rücken. Jetzt trug er keinen Helm mehr, dafür eine graue Wollmütze, unter der dunkelblonde Haare herausschauten. In der Rechten hielt er einen klobigen Gegenstand. Er streckte beide Handflächen zu ihr aus, als ob er ihr ein Stoppzeichen geben wollte, dann bewegte er die Hände bedachtsam auf und ab.
Zurückgehen. Langsam.
Im Zoo war sie Eisbären schon näher gekommen. Aber Wände, Käfige, Gräben schufen dort eine unverhältnismäßige Distanz. Hier, auf dem Hügel, wirkte das Raubtier größer als jedes Zooexemplar in ihrer Erinnerung. Seine dunkle Schnauze ruckte leicht nach links – es musste sie wahrgenommen haben, denn es hielt inne. Der Kopf hob sich, witternd, die linke Vorderpfote, groß wie ein Teller, baumelte in der Luft.
Kirsten spähte erneut in Richtung Agentur. Sie war wie erstarrt. Der Abstand zwischen ihr und ihrem Retter schien sich kaum zu verringern, seine Schritte waren irritierend ruhig und gleichmäßig.
Sie zwang ihre Beine loszugehen. Langsam, wie ihr signalisiert worden war, den Blick schräg nach hinten auf den Eisbären gerichtet. Das verrückte Bellen der Hunde schwoll weiter an. Jetzt trat ein weiterer Mann aus dem Nachbargebäude, erfasste die Situation und verschwand sofort wieder im Inneren.
Der Eisbär kam näher. Fünfzig Meter.
Kirsten vergaß, dass sie langsam gehen sollte. Ihre Schritte wurden hektischer, fast schon Sätze, ihr keuchender Atem kam in kleinen Wolken über ihre Lippen. Der Schnee unter ihren Füßen gab nach. Sie brach bis zum Knie ein, ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, und stürzte zur Seite. Schnee drang
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