Ins Eis: Roman (German Edition)
Warthenberg zu beherbergen. Ein Schiff, dessen einziger Fluchtweg, die Gangway, nicht einmal in einen Hafen führte, sondern in noch feindlichere Isolation.
Um ihrer Sicherheit willen führte Tim sie nicht bis direkt an den Gletscher mit seinen sich mehrere Stockwerke hoch türmenden, zerklüfteten Wänden heran, sondern stoppte ein ganzes Stück entfernt. Um die Anker zu setzen, mussten sie diesmal Eisschrauben in das Fjordeis drehen und mit dem Beil Kuhlen für die Ankerkrallen hacken. In der näheren Umgebung ragten unzählige kleine Eisberge empor, verwandelten die Schneedecke auf dem Fjord in ein Schlachtfeld des Zerfalls. Tim wies die Gruppe an, sich auf gar keinen Fall diesen Eistrümmern zu nähern, selbst dann nicht, wenn die Natur rief. Die Erhebungen taugten als Verstecke für Eisbären, erklärte er. Es passierte häufig, dass hinter einem der Brocken jählings ein Bär zum Vorschein kam, eine Überraschung, die für den Toilettengänger unangenehm enden konnte.
Während des Mittagessens – eine weitere Tütenmahlzeit – konnte Kirsten endlich die Gelegenheit nutzen, um mit Erland unter vier Augen zu reden und ihn auf das ominöse Notizbuch anzusprechen, das sie nicht unter Kristoffers Sachen hatte finden können. Sie saßen nebeneinander auf Erlands Schlitten, die Blicke auf die Gletscherfront gerichtet, die Schneebrillen und Gesichtsmasken zur Abwechslung einmal beiseitegelegt. Sie waren allein, keiner der anderen in Hörweite. Kirsten kam sofort zur Sache.
»Erland, als du nach Kristoffers Tod nach Longyearbyen geflogen bist, was hast du da alles mitgenommen, abgesehen von den Dingen, die du mir bereits gegeben hast? War da auch ein Notizbuch unter Kristoffers Sachen?«
Erland räusperte sich umständlich und gab dann zu: »Ja, da war ein Notizbuch. Ich habe es mitgenommen; ich fand nicht, dass es beim Gouverneur herumliegen sollte.«
»Aber du hast es mir nicht gegeben.«
»Nein, das habe ich nicht.«
»Weshalb nicht? Stand da etwas drin, was ich nicht lesen sollte?« Kirstens Fantasie hatte das Notizbuch bereits nach allen Seiten durchgeschüttelt. Einmal hatte sie es zu einem Tagebuch gemacht – obwohl Kristoffer nicht der Typ für solcherlei Aufzeichnungen gewesen war –, dann zu einem Adressbuch mit Einträgen von Telefonnummern unbekannter Frauen. Später hatte sie sich den Entwurf eines Abschiedsbriefs ausgemalt. An die andere Frau. An sie selbst.
»Es war kein Tagebuch oder so, das hätte ich dir selbstverständlich sofort gegeben, Kirsten. Es war nichts Persönliches.«
Einen Moment lang überwog fast so etwas wie Erleichterung, aber mit der Pulverisierung ihrer Fantasie-Szenarien kehrte der Ärger zurück. »Findest du nicht, dass mich das trotzdem etwas angeht?«
Erland scharrte mit den Stiefeln im Schnee und legte gefrorenen Fjord frei, dunkles Eis über tiefem Meeresgrund, nicht zu vergleichen mit dem hellen Gletscherblau vor ihnen. Mehr Schatten, aber weniger Substanz. Sie standen über einem Nichts. Erland hatte seine Mahlzeit beendet, eine Tasse Tee dampfte in seinen großen Händen. »Kirsten, es tut mir leid, wenn dir das Kopfzerbrechen bereitet. Ich werd’s dir schon noch erklären, aber zunächst muss ich ein paar Dinge mit Papa klären.«
»Was hat Fredrik damit zu tun?«
Erland antwortete nicht.
»Gut, dann werde ich eben heute Abend Monika löchern.«
»Monika weiß nichts davon, zumindest nicht das.«
Während sie sprachen, war Hartmut mit seiner Kamera in Richtung einer Ansammlung von Gletscherbrocken geschlendert, schräg zueinander stehende, mehr als mannshohe Eisberge. Mit einem scharfen Pfiff rief Tim ihn zurück. Hartmut ließ sich Zeit, der Aufforderung nachzukommen, er blieb sogar stehen, um ausgiebig zu husten. Ärgerlich schnalzte Erland mit der Zunge. »Tim hat sich doch deutlich genug ausgedrückt, was Eisbärenverstecke anbelangt«, murrte er. »Will der Idiot unbedingt sein Glück herausfordern?«
»Er hustet in letzter Zeit recht viel.«
»Es ist eine Allergie, hat er mir gesagt.«
»Auf was kann man denn hier bitte allergisch reagieren? Auf gefrorenes Wasser?«
»Hausschneemilben.«
Das Lachen tat gut, lenkte Kirsten jedoch nur kurz von ihrem eigentlichen Anliegen ab. Ob Kristoffer Erland manchmal Dinge anvertraut habe, die er sonst niemandem erzählt habe, wollte sie wissen. Immerhin war Erland sein großer Bruder gewesen; er kannte womöglich Seiten von Kristoffer, die ihr unbekannt waren. Darüber zeigte sich Erland beinahe
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