Ins Eis: Roman (German Edition)
schräg gegenüber befand sich die Küche. In schmalen Einbauregalen neben der Kombüsentür reihten sich Behälter mit Servietten, Knäckebrot, Marmeladen und anderen Lebensmitteln. Gemeinschaftlich genutzte, fensterlose Toiletten und Duschen lagen zwischen den Zimmern; wollte man zu den Unterkünften der Crew im separaten, hinteren Teil des Schiffes gelangen, musste man ganz nach oben und hinaus an Deck steigen, um am Steuerrad vorbei wieder ins Schiffsinnere einzutauchen.
Kirsten tappte lediglich mit ihren Hüttenschuhen an den Füßen an den Duschen vorbei in Richtung Stiege. Auf Höhe der Küche vernahm sie gedämpfte Stimmen; über ihr, im Deckhaus, erklangen Tritte. Eine Stimme, bislang gedämpft, erhob sich über eine zweite: Erland, er klang erregt. Fredriks klarer Bariton antwortete etwas, das sie nicht verstand; er schien in der Tür zum Deck zu stehen. Unschlüssig hielt Kirsten inne. Kurz darauf hörte sie, wie sich die Außentür schloss.
»Sprich es doch aus: Du traust mir den Posten nicht zu.«
Fredriks Antwort ließ auf sich warten. Als sie kam, verstand Kirsten neuerlich nichts, doch es handelte sich deutlich genug um einen einzigen Satz. Auf den Stille folgte.
Am anderen Ende des Schiffsbauchs ging eine Kabinentür auf, kurz darauf klickte eine zweite Tür ins Schloss. Kirsten wartete, halb im Eingang zur Schiffsküche stehend, ob jemand in ihre Richtung kommen würde. Nach einer halben Minute rauschte eine Klospülung. Wieder Türenöffnen und -schließen, ein kurzer Blick auf Monikas Rücken, dann wurde im Schiffsbauch erneut alles ruhig.
In der Zwischenzeit war es oben still gewesen. Doch plötzlich erscholl Fredriks Stimme, voll frostigem Ärger. Ob ihn denn sein eigener Sohn mit dem Geschmiere irgendeines dummen Journalisten erpressen wolle, der sein Maul aufreiße über Dinge, von denen er keine Ahnung habe? Ob Erland sein Leben mit Lügen pflastern wolle? Zusammen mit den letzten Worten fiel etwas zu Boden, gefolgt von einem schwachen Schaben, als der Gegenstand ein Stück weit über gewienertes Holz rutschte. Kirsten riskierte einen raschen Blick. Direkt am Absatz der steil nach unten führenden Treppe, schräg über ihr, lag ein grünes Notizbuch. Fredrik musste es vom Tisch gefegt haben. Erland trat darauf zu, bückte sich und hob es auf. Kirsten machte sich kleiner, darauf bedacht, unsichtbar zu bleiben. Erland trug eine Jacke und quer über die Schulter seine Kameratasche; noch in der Hocke wischte er mit dem Handrücken über den Einband des Notizbuchs.
»Lügen?«, fragte Erland bitter. »Ein Leben auf Lügen gegründet? Das sagst du mir? Selbst wenn es stimmt und dieser Journalist, oder wer auch immer es war, nichts als Lügen zusammengetragen hat, bleiben genügend andere übrig. Du bist gebettet in Geheimnisse, lieber Vater. In deine eigenen genau wie in die Lügen anderer. Und falls dir dazu nichts einfällt, dann frag doch mal deine Frau, was sie zu sagen hat.«
»Du überspannst den Bogen, Erland«, warnte Fredrik in einem Tonfall, den Kirsten niemals zuvor bei ihm gehört hatte. Unvermittelt wechselte er ins Norwegische, was er, seit er in Deutschland war, niemals mit seinen Söhnen gesprochen hatte. Kirsten verstand ihn nicht, aber da Erland sichtbar die Faust ballte, musste Fredrik sehr deutlich geworden sein. Eine Sekunde später näherten sich Erlands Schritte der Treppe. So leise wie möglich schob Kirsten sich rückwärts den Gang zu ihrer Kajüte entlang, gerade noch rechtzeitig, bevor Erlands Beine über ihr erschienen. Die Tür zur Toilette stand offen, sie glitt hinein. Im unteren Salon hielt Erland inne. Er schnaufte hörbar, sein Atmen vermischte sich mit unverständlichem Selbstgespräch. Kirsten linste um die Ecke. Erland starrte auf das Notizbuch in seiner Hand, dann klappte er den Deckel seiner Kameratasche hoch und stopfte das Büchlein in das Seitenfach neben dem Fotoapparat. Kirsten wartete, bis er in seiner Kabine verschwunden war, dann huschte auch sie wieder zurück in ihre.
Im Bett verschränkte sie die Arme hinter dem Kopf und blickte zum Oberlicht hinaus in den Himmel über dem Schiff. Feuchtigkeit war innen an der Scheibe kondensiert, weshalb sie keine Sterne sah, bloß verwaschene arktische Nacht. Die Erkenntnis, dass Kristoffers Notizbuch offenbar bloß mit Fredrik und tatsächlich nichts mit ihrer Ehe zu tun hatte, brachte weder Erlösung noch beantwortete sie Fragen. Vielleicht sollte sie ihren Mann einfach endgültig begraben. Ihre Ehe in
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