Ins Eis: Roman (German Edition)
»Wenn du ihre Statur hättest, würdest du auch schneller frieren.«
Monika wollte alles ganz genau wissen, und so erzählte Kirsten von ihren schmerzenden Fingern und Zehen, und dass sie nach wie vor ein taubes Gefühl in den Fingerkuppen und Zehenspitzen empfand. Selbst Jonas zeigte sich von der Schilderung des Überlebenskampfes seiner Mutter beeindruckt und griff nach einer Gabel, um deren Zinken zwecks Messung des Taubheitsgrads in ihrer Daumenspitze zu versenken. Fredrik lenkte den Jungen von seinem Vorhaben ab, indem er sich zwischen Hauptgang und Dessert von ihm die Treppe hinab in den Schiffsbauch und von dort durch die restlichen Abteile des Schiffs führen ließ. Während Großvater und Enkel unterwegs waren, fragte Hartmut Kirsten, ob sie denn ernsthaft vorhabe, auch die nächsten Tage mit der Hundeschlittengruppe zu verbringen.
»Eigentlich schon«, erwiderte Kirsten, ein wenig verwundert über Hartmuts nicht enden wollende Attacken. »Ich lasse doch mein Team nicht im Stich.« Womit sie ihre sechs Hunde meinte und nicht die Männer. Dabei hatte sie bereits selbst mit dem Damenprogramm geliebäugelt. Es mochte wärmer geworden sein, trotzdem hatte die Erfahrung ihrer erst schmerzenden, weil wieder auftauenden, und danach tauben Finger und Zehen einen bleibenden Eindruck hinterlassen. In der Nacht war sie mehrmals aufgewacht, hochgefahren in einer Schrecksekunde voller Panik. Sie hatte im Schlafsack mit den Beinen gestrampelt und den Zehen gewackelt aus Angst, sie könne sie womöglich nicht mehr fühlen. Jetzt jedoch packte Hartmuts Macho-Attitüde sie bei ihrem Stolz. Sie hatte nicht vor, sich von ihm ins Bockshorn jagen zu lassen. Verdammt, sie war Jockey gewesen! Wenn sie vom Pferd gestürzt war, war sie wieder aufgestiegen. Was bedeuteten denn schon ein paar taube Fingerkuppen?
Elisabeth schwieg zu diesem Thema, Kirsten war nicht einmal sicher, ob sie überhaupt zugehört hatte. Fredriks Frau hatte sich auf der Sitzbank zurückgelehnt, den Kopf in Richtung Bullauge gedreht. Sie hielt ihr Weinglas in der Hand und strich gedankenverloren mit dem Zeigefinger über den Rand. Tobias folgte ihrer langsam kreisenden Bewegung wie ein Kaninchen den Bewegungen einer Schlange.
Hartmut erkundigte sich, ob sich Peters Rücken gebessert hatte, der winkte jedoch gut gelaunt ab. »Danke der Nachfrage, aber eure Tour ist wohl nach wie vor nichts für mich. Morgen schlaft ihr ja sogar in richtigen Expeditionszelten ohne Ofen. Glaub mir, ich weiß ganz gut, wie das laufen wird: Erstens werdet ihr im Zelt immer nur gebückt hantieren können, zweitens liegt ihr nur auf Isomatten und werdet im Liegen Kuhlen in den Schnee schmelzen. Am Morgen werdet ihr dann auf einer Buckelpiste aufwachen, völlig verkrampft und zerbeult.«
»Eine sehr bildhafte Beschreibung.« Elisabeth schüttelte sich. »Da bin ich doch froh, dass wir morgen noch eine Nacht in unseren Kajütenbetten verbringen werden.«
»Was sagt denn der Wetterbericht?«
»Morgen soll es bedeckt werden«, berichtete Oda. »Trotzdem können wir für die erste Tageshälfte gute Sicht erwarten. Abends kann es schneien, der Wind soll auffrischen. Es wird noch ein bisschen wärmer werden. Für Longyearbyen sind minus siebzehn Grad gemeldet, Tendenz steigend.«
»Klingt doch nicht schlecht«, meinte Kirsten.
»Dann bleibt also alles beim Alten?«, vergewisserte sich Monika. »Kirsten fährt weiter Hundeschlitten, und wir anderen Frauen fahren morgen mit Jonas und Peter zur Gletscherfront.«
Peter hob sein Glas. »Genau, zwei Herren und vier wunderschöne Damen.« Er prostete Elisabeth, Tanja, Monika und Oda zu. Hartmut hingegen fing Kirstens Blick auf und schüttelte ganz sachte den Kopf.
Kirsten ging früh zu Bett, konnte jedoch nicht einschlafen. Kurz vor Mitternacht gab sie das Herumwälzen auf, kletterte aus ihrem Bett und zog sich im Schein der Taschenlampe an, darauf bedacht, Jonas in der engen Kajüte nicht zu wecken. Ein wenig frische Luft, hoffte sie, würde beim Einschlafen helfen, außerdem war der Himmel am Abend sternenklar gewesen, womit gute Chancen auf Nordlichter bestanden.
Das Hotelschiff bot Raum für zwanzig Touristen. Die schmalen Kajüten mit ihren Stockbetten, Waschbecken und hölzernen Regalen gruppierten sich links, rechts und an den Enden eines Ganges, der sich in der Mitte des Schiffsinneren zu einem offenen Salon mit zwei großen Tischen weitete. Dort führte eine steile Treppe in den großzügigeren oberen Salon, der Treppe
Weitere Kostenlose Bücher