Ins Eis: Roman (German Edition)
sich vom eigenen Körper ab und den Menschen und ihren kleinmütigen Kriegen zu. Es schwang mehr mit in Hartmuts Worten als nur die Sorge, sie könne auf der Tour zu einer Last werden. Es war die Stimme seiner Schwester Elisabeth und die ungeklärte Frage, was Kirstens Platz in dieser Familie sein sollte.
Sie war eben nicht Kristoffer. Und Kristoffer war tot.
Später – es war mittlerweile dunkel geworden, der Ofen hatte das Innere des Basiscamps auf acht Grad erwärmt, und sie hatten es sich auf den ausgebreiteten Matten gemütlich gemacht – war es Kirsten zwar wieder warm geworden, aber es zeigte sich, dass Ingrid recht behalten sollte: Die Taubheit in den Finger- und Zehenspitzen blieb, da nützte kein Massieren, kein Kneten, kein Eintauchen in warmes Wasser. Als Kirsten sich vor ein paar Wochen den Daumen am Wasserkocher in ihrer Küche verbrannt hatte, hatte sich die Daumenspitze genauso taub angefühlt. Sie hätte nicht gedacht, dass man sich an Kälte verbrennen konnte. Als sie den Gedanken aussprach, bemerkte Erland leise: »Ich denke, Kälte ist der angenehmere Tod. In der Hinsicht hat Kristoffer gut gewählt.«
»Kristoffers Tod hat überhaupt nichts mit einer Wahl zu tun«, widersprach Kirsten verärgert.
»Mein Bruder ist in die Arktis gefahren, um Urlaub zu machen. Nicht in die Wüste, so meinte ich das. Ich würde lieber an Unterkühlung sterben als an Durst, lieber durch Erfrieren als durch Verbrennen. Du nicht?«
Ansonsten war die Stimmung im Zelt gut. Die Männer lobten Kirstens Toilettenkonstruktion mit dem aufgehäuften Windschutzwall und den Tritten für die Füße. Kirsten hingegen schwor, auf gar keinen Fall in dieser Nacht ihr eigenes Werk zu benutzen; überhaupt würden keine zehn Pferde sie aus diesem Zelt bekommen, bevor die Temperatur nicht um mindestens fünf Grad steige. Das Zähneputzen verschob sie auf den nächsten Tag. Von den Männern hatte, wie sich gleich darauf herausstellte, außer Tim und Fredrik sowieso keiner ans Zähneputzen gedacht. Sie hatten ihre Zahnbürsten nicht einmal mitgenommen, was Kirsten zu der Bemerkung veranlasste, Zivilisation sei eben doch keine Frage der Möglichkeiten, sondern eine Frage der inneren Einstellung.
Tim telefonierte mit dem Satellitentelefon nach Longyearbyen. Die Damen hätten einen herrlichen Ausflug zur Eishöhle hinter sich, für den kommenden Tag sei weiterhin gutes Wetter gemeldet, wenn auch nicht mehr so kalt. Das Außenthermometer bekräftigte die Prognose: minus achtundzwanzig Grad, das waren drei Grad mehr als am Nachmittag.
Ingrid und Kirsten boten an, sich um die Zubereitung des Eintopfs zu kümmern, während Tim draußen die Hunde versorgte. In der Zwischenzeit optimierten die Männer die Schlafanordnung: Sie würden alle sternförmig um den Ofen schlafen, die Füße zur Zeltmitte. Kirsten, die Kleinste in der Gruppe, würde am äußersten Rand schlafen, wo am wenigsten Platz war, neben ihr Ingrid und Tobias. Die älteren Herren, in der Annahme, nachts noch einmal hinauszumüssen, schliefen so, dass sie den Ausgang erreichen konnten, ohne über alle anderen hinwegsteigen zu müssen. Oda hatte jedem eine dicke Isomatte und zwei Paar Schlafsäcke eingepackt. Mit den in Reih und Glied auf den Spanplatten im Eingangsbereich aufgestellten Stiefeln verwandelte sich das Zelt rasch in ein Schlaflager, das man mit ein wenig studentischer Nostalgie gemütlich hätte nennen können. Ingrid erkundigte sich flüsternd bei Kirsten, ob die Männer schnarchten.
»Darauf kannst du wetten. Aber« – Kirsten wedelte mit ihrem Waschbeutel – »ich habe zwei Paar Ohrstöpsel eingepackt, das reicht für uns beide.«
»Bin ich froh, dass du mitgekommen bist«, sagte Ingrid.
Kirsten, überrascht von Ingrids Bekenntnis, hob ihre Hände und wackelte demonstrativ mit den Fingern. »Und ich bin froh, eine Ärztin dabeizuhaben.«
Ein wenig später versuchte Erland, sich zwischen Kirsten, der Kochausrüstung und Ingrid hindurchzuschieben, und stieg dabei versehentlich auf Kirstens Fuß. Er entschuldigte sich sofort, ohne jedoch Anstalten zu machen, an seinen Platz zurück oder nach draußen zu gehen.
»Verdammt, was wird das eigentlich, Erland? Du wirfst uns mit deinem Getrampel am Ende noch den Kochtopf um.«
»Ich suche Tims Gewehr. Ich wollte es mir anschauen, ich dachte, es würde hier irgendwo liegen.«
»Er hat es mit hinausgenommen. Wahrscheinlich ist es in seinem Zelt.«
Erland blinzelte in Richtung Eingang; offenbar überlegte er, ob
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