Ins Eis: Roman (German Edition)
unter dem Segeltuch an der Spitze des Schlittens, die schwereren Ausrüstungsgegenstände packte sie in einen am Gestell des Handgriffs befestigten Sack. In einer Aluminiumbox auf der Mitte des Schlittens wurden ein Biwaksack für Notfälle, der Frontanker, mit dem sie die Hunde bei längeren Pausen sicherten, sowie Tagesrucksack, Kamera und Verpflegung untergebracht.
Als sie gerade damit beginnen wollte, ihren Hunden die Geschirre überzuziehen, hob der morgendliche Chor an. Einer der Hunde in Hartmuts Gespann gab den Anfang mit einem lang gezogenen, ansteigenden Ton. Am höchsten Punkt verharrte das Heulen einige Augenblicke, verebbte kurz und hob erneut an. Andere Huskys stimmten ein, die meisten im Liegen, die Schnauzen zum Himmel gereckt, jede Stimme einzigartig. Mancher Hunde Heulen taumelte ins Bellen hinein, andere klagten sich ein Stück die Tonleiter hinab, ein weißer Rüde klang, als ob ein jammerndes Kind nach seiner Mama rief. Die Laute füllten den Raum zwischen den Gespannen, zwischen den Menschen und den schneebedeckten Hängen und reduzierten die Welt auf das Tal und seine ihre Existenz kundtuenden Besucher. Das Heulen dauerte weniger als eine Minute, ein dissonanter ursprünglicher Gesang an einem Ort, der sich um Harmonie nicht scherte.
»Das ist echt abgefahren«, kommentierte Tobias an Kirstens Seite, seine Filmkamera im Anschlag. Zum ersten Mal auf der gesamten Reise sah Kirsten ihn ernsthaft begeistert.
Sie brachen auf. Adventdalen – das Tal, dem sie von Longyearbyen aus gefolgt waren – mündete bald darauf in ein weiteres Flusstal; dieses wiederum führte sie auf das gefrorene Eis des Tempelfjords. Am Anfang entging Kirsten der Übergang von Flusstal zu Fjord, erst als die ersten gletscherblauen Brocken wie bizarre überdimensionierte Eiswürfel aufragten, wurde ihr bewusst, dass sie seit geraumer Zeit über Wasser fuhren. In der Ferne zeichnete sich bereits das Zwischenziel ihrer Tagesetappe ab: Tunabreen, eine mächtige halbrunde, in den Fjord kalbende Gletscherfront. Eisbrocken fielen von der Abbruchkante in den Fjord, wurden von Meereis umschlossen und trieben langsam, im Eis gefangen, in Richtung offenes Meer.
Gegen Mittag überholte eine Gruppe aus fünfzehn Motorschlitten die Musher und bog dann in einer scharfen Linkskurve in Richtung Fjordmitte ab. Tim deutete auf eine dunkle Stelle weiter vorne. Dort befinde sich eine Strömung, das Eis sei dünn, und Fjordwasser trete an die Oberfläche. Wie die Motorschlittengruppe würden sie diese gefährliche Stelle im großen Bogen umfahren. Kirsten stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Die offene Stelle im Eis war bei diesen Sichtverhältnissen gut erkennbar, ein längliches graublaues Becken, das an den Rändern immer heller wurde, bis es ins feste, schneebedeckte Eis überging. Sie fragte sich, wie viele Fahrer bei Dunkelheit, schlechter Sicht oder aus Unachtsamkeit an solchen Stellen für immer verschwunden waren. Würde man die Leichen überhaupt finden, oder trieben sie mit der Strömung unter dem Eis immer weiter hinaus in den Fjord und schließlich in den offenen Ozean? Welche Erklärung gab der Sysselmann in solchen Fällen den Angehörigen, wenn es keine Zeugnisse mehr gab, keine Rucksäcke mit Erinnerungen, keine verlorenen Jacken? Wenn sie niemals sicher sein konnten?
Aber wer konnte schon jemals sicher sein? Eine Leiche im Schnee beantwortete auch keine Fragen mehr.
Linker Hand, auf der gegenüberliegenden Seite des Fjords, meldete sich Tim erneut zu Wort, könnten sie die »Noorderlicht« liegen sehen, das Segelschiff, auf dem sie die Nacht verbringen würden. Kirsten drehte den Kopf zur Seite und klappte ihre an den Rändern leicht beschlagene Schneebrille hoch. Sie war so auf die Gletscherzunge vor sich fixiert gewesen, dass sie das Schiff erst jetzt bemerkte. Wie gestrandet lag der Schoner auf dem Eis in der Ferne, eine feingliedrige Konstruktion aus spinnenhaften Masten vor dem Hintergrund der bis zu achthundert Meter hohen Berge. Aus der Distanz hätte man die »Noorderlicht« genauso gut für ein verunglücktes Expeditionsschiff aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert halten können, das der Winter überrascht und im Eis eingeschlossen hatte. Sie wirkte abenteuerlicher und weniger einladend als auf den Bildern, die Kirsten gesehen hatte, aber das mochte an der Entfernung liegen. Unwillkürlich fragte Kirsten sich, ob ein Boot wirklich der beste Ort war, um die Familien Stolt und
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