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Ins Eis: Roman (German Edition)

Ins Eis: Roman (German Edition)

Titel: Ins Eis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Nieberg
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Ein Wimmern entschlüpfte ihrer Kehle, rückwärts stolperte sie nach draußen, wo sie sich neben einer der Abspannleinen übergab. Ein Knie stieß gegen ihre Schulter, Ingrid, die an ihr vorbeieilte. Fredrik folgte ihr auf dem Fuß. Er zerrte an Tims Jacke, stieß ihn grob aus dem Eingang, bis er selbst sehen konnte, was im Inneren geschehen war. Kirsten hörte seinen fassungslosen Ausruf, auf Norwegisch, seiner Muttersprache, dann stolperte auch Fredrik rückwärts, einen Meter, zwei Meter. Er sackte nach hinten, einem Kind gleich mit dem Hintern zuerst, blieb sitzen, wie er gefallen war. Sein Mund arbeitete, doch es kam kein Ton heraus. Ingrid war im Zeltinneren verschwunden. Auf der anderen Zeltseite übergab sich noch jemand. Das Geräusch ließ Kirsten erneut würgen, sie erbrach alles, was sie an diesem Tag zu sich genommen hatte, das Gesicht dicht über dem Schnee, die Hände bis zu den Unterarmen darin versunken.
    Sie wusste es. Sie brauchte Ingrid nicht, die eine Minute später wieder erschien und verkündete, dass Erland nicht mehr lebte. Der Schuss war unter seinem Kinn schräg nach hinten oben durch den Schädel gedrungen; Erland war sofort tot gewesen. Sie habe nichts angerührt, sagte Ingrid, sie habe bloß seine Augen geschlossen.
    Ingrid und Tim waren die Letzten, die noch standen, neben dem mannshohen Gemeinschaftszelt, durch dessen offenen Eingang Wind und Schnee ins Innere wirbelten, Kocherflamme und Benzinlampe zum flackernden Leben erweckten, wo der Tod seinen Mantel ausgebreitet hatte. Tim sagte, sie müssten die Flammen löschen, sonst könne das Zelt abbrennen, aber er bewegte sich nicht. Es war Ingrid, die ein zweites Mal ins Innere trat, um Lampe wie Kocher den Benzinhahn abzudrehen. Diesmal schlug sie danach den Eingang hinter sich zu, schloss den Reißverschluss.
    Kirsten fühlte sich, als hätte sich ihr Geist von ihrem Körper getrennt, um losgelöst von allem zu beobachten. Sie war schon einmal derart über Spitzbergen geschwebt, im Traum wie ein auf Sturmwinden balancierender Vogel, mit einer unanständig klaren Sicht auf alles, was unten geschah. Diesmal jedoch erstreckte sich unter ihr nicht jenes tagerhellte, von Stein und Wasser geprägte Flusstal, in dem Kristoffer seine Angst in die gleichgültige Welt geschrien hatte. Diesmal war es der Blick von oben auf die dunkelblaue Nacht, gebrochen nur vom tänzerischen Spiel von Wind und Schnee. Ein Camp, eingeklemmt zwischen einem gewaltigen Fjord und steil aufstrebenden Bergen, eine winzige Ansammlung länglicher Kuppeln aus lächerlich dünnem Stoff und wirr verteilter Schlittengestelle. Dazwischen sechs Gestalten, gebeugt im Antlitz des Schreckens, die künstlichen Lichter ihrer Lampen zitternde Kreise auf dem endlosen Schnee. Jenseits davon: Finsternis, der absolute Mangel an anderer Menschen Licht. Unendliche gnadenlose Arktis.
    »Was machen wir denn jetzt?«, stammelte Hartmut. Er hatte im Knien einen Arm um Tobias geschlungen. Jetzt löste Hartmut den Griff um seinen schluchzenden Sohn, krabbelte gar ein Stück auf Fredrik zu, sein Flehen unbewusst an ihn gerichtet. Doch Fredrik bot keine Führung. Bewegungslos starrte er auf das Zelt, in dem sein toter Sohn lag. Sein anderer toter Sohn. Fredriks Kapuze war im Fallen nach hinten gerutscht. Schnee und weißes Haar vermischten sich, beugten sich gemeinsam dem Wind.
    Ingrid trat auf Fredrik zu, ging vor ihm in die Hocke. Sie sprach leise auf ihn ein, mit den Fingern seine Wange berührend. Sie rückte ihre Stirnlampe zurecht, bis sie ihm in die Augen leuchten konnte, gleichzeitig bewegte sie einen Finger vor seinem Gesicht. Danach zog sie ihre Handschuhe aus, nahm Fredriks Arm und fühlte seinen Puls. Ein paar Wortfetzen trieben heran, Kirsten verstand nichts. Ingrid sprach Norwegisch mit Fredrik, der nicht antwortete, nur einmal, am Ende, knapp nickte. Ingrid half ihm auf die Beine. Auf sie gestützt, stapfte der alte Mann schwerfällig auf das Zelt zu, das er für sich und Erland errichtet hatte. Im Gehen drehte Ingrid den Kopf und bat Kirsten, ihr eine kleine gelbe Tasche aus dem Zelt zu bringen; sie finde sie in ihrem roten Seesack.
    Kirsten tat, wie ihr geheißen. Während sie in Ingrids Sachen wühlte, prallte in ihren leer gefegten Gedanken der Schuss umher wie ein endloses, von den Schädelwänden zurückgeworfenes Echo. Ingrids Seesack enthielt außer klein zusammengelegten Ersatzkleidern und einem Waschbeutel bloß noch Schreibzeug und einen Roman eines bekannten

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