Ins Eis: Roman (German Edition)
nicht da war, und dann hat er es sich angeschaut. Nur Gott weiß, was er falsch gemacht hat.«
»Hat denn keiner etwas gesehen?«
Einer nach dem anderen schüttelte den Kopf. Sie sei dabei gewesen, die neue Toilette zu schaufeln, als sie den Schuss gehört habe, sagte Ingrid. Er und Tobias hätten den Vorraum ihres Zelts ausgeschaufelt, erklärte Hartmut; Tim hatte die Hunde versorgt. »Und Fredrik«, fragte er. »Wo ist Fredrik gewesen? Hat er es gesehen?«
Ingrid schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn gefragt, weil ich dachte, das wäre das Schlimmste. Wenn er es gesehen hätte. Aber er hat irgendwas gemurmelt von seiner Stirnlampe, die nicht funktioniere. Er hat mit ihr hantiert, als der Schuss fiel. Er dachte erst, es sei ein Eisbär.«
»Das dachten wir wohl alle.«
»Ich will diese Nacht nicht hier verbringen«, jammerte Tobias. »Nicht hier mit der … mit Erland.«
»Es gibt nichts, wohin du gehen kannst«, sagte Tim hart. »Halt dich einfach vom Gemeinschaftszelt fern.«
»Es darf niemand etwas anrühren«, gab Ingrid zu bedenken. »Für die Polizei.«
Sie nickten. Auf dem schrägen Dach des Gemeinschaftszelts sammelte sich derweil der Schnee, um mit der nächsten Bö sogleich wieder fortgeweht zu werden.
»Vielleicht sollten wir einfach alle ins Bett gehen«, schlug Tim vor. »Wenn ihr Hunger habt, esst Kekse. In meinem Schlitten sind auch noch Thermosflaschen mit Wasser.«
»Jemand sollte bei Fredrik bleiben«, sagte Ingrid, »zur Sicherheit.«
Tim nickte. Er hätte sonst im Gemeinschaftszelt genächtigt, jetzt würde er bei Fredrik im Zelt schlafen. Er sagte, er würde sie alle wecken, noch bevor es hell würde. Keiner sprach aus, dass sie glaubten, in dieser Nacht keinen Schlaf zu finden.
Die Nacht war gespenstisch. Der Wind war stärker geworden, zerrte ohne Unterlass am Stoff und den Abspannleinen der Zelte, schlug dabei immer wieder mit solcher Macht zu, dass Kirsten mehrmals aus ihrem Schlafsack hochfuhr, aus Angst, das Zelt könne einstürzen. Durch ihren und Ingrids Atem bildete sich Reif an der Innenwand, weshalb jedes Mal, wenn sich eine von ihnen bewegte und dabei gegen die Zeltwand stieß, pulvriger Frost auf sie herabrieselte.
Kirsten lag in der Dunkelheit und dachte an Erland. War sein Blut auf dem Zeltboden bereits gefroren? Seine Glieder steif? Wenn sie den Wind aufheulen hörte wie ein Tier, war es dann, weil er seinen Weg ins Innere des Gemeinschaftszeltes fand? Weil er am Zelt rüttelte, höhnisch ob der flüchtigen Behausung, die zum Sarg noch unbeständigeren Lebens geworden war? Rochen die Hunde das vergossene Blut, ahnten sie, dass das Rudel kleiner geworden war?
Kirsten betete, dass bei Jonas alles in Ordnung war. Sie wünschte, sie wäre auf dem Schiff geblieben. Was würden sie Monika sagen, wenn sie morgen früh die »Noorderlicht« erreichten, sechs Schlitten, wo vorher sieben gewesen waren? Wie sollten sie ihr erklären, was geschehen war? »Erland hatte einen Unfall.« Würde es erneut Fredrik sein, der solche Worte einer Schwiegertochter gegenüber sprach? Kirsten bezweifelte es.
Sie wälzte sich in ihren zwei Schlafsäcken ein weiteres Mal auf die andere Seite, doch es gab keine Stellung, in der Schlaf sie erlöste. Sie lauschte auf Ingrids gleichmäßige Atemzüge. Die ersten Stunden hatten sie sich leise unterhalten. Über alles Mögliche, Ingrids Ausbildung, Kirstens Gemälde, alte Weihnachtsfeiern, Jonas’ Geburt, alles, was die Gegenwart von ihnen fortrückte, die Präsenz des großen Zelts am Rand des Lagers mit seinem in der Zeit erstarrten Grauen verdrängte. An die großen Themen, an Fredrik und Ingrid – Schützling oder Tochter? –, an Kristoffer und Ingrid – Halbschwester oder Geliebte? –, hatte Kirsten sich nicht herangetraut, zu unpassend war der Moment, zu angeschlagen ihre Psyche, als dass sie noch mehr Antworten, die sie nicht bekommen wollte, hören mochte. Danach hatten sie geschwiegen, unruhig, aber erschöpft, bis Ingrids Atemzüge gegen Mitternacht ihr Hinübergleiten in den Schlaf verrieten. Seitdem lag Kirsten alleine wach, auf sich selbst gestellt, gegen das Bild von Erlands Leiche, den blutigen Hinterkopf, das am Boden liegende Gewehr ankämpfend und gegen den Drang, hinauszumüssen in die Nacht. Aber irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. Fast wünschte sie sich, ein Kind zu sein, Ingrid wecken zu können, ohne sich komisch dabei vorzukommen, sie zu bitten, mit ihr zu gehen.
Nicht ganz so bemüht leise wie sonst schlüpfte
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