Ins Eis: Roman (German Edition)
skandinavischen Krimiautors. Die gelbe Tasche mit Medikamenten lag ganz unten zusammen neben einer Erste-Hilfe-Tasche. Kirsten nahm beide an sich.
Fredrik lag auf dem Rücken in seinem Zelt, einen angewinkelten Arm über die Augen gelegt, er murmelte vor sich hin. Ingrid kniete neben ihm. Ihr Griff in die gelbe Tasche ging nach Spritze und Kanüle; auf Kirstens Frage, ob sie etwas tun könne, schüttelte sie den Kopf. Schnee wirbelte durch den zur Seite geschlagenen Zelteingang an Kirsten vorbei in den Vorraum. Sie trat zurück und zog den Reißverschluss des Außenzelts nach unten. In der Zwischenzeit hatten sich die anderen in der Mitte des Lagers um Tobias’ Schlitten versammelt. Kirsten trat zu ihnen. In diesem Moment holte der Schock sie ein. Plötzlich begann sie zu zittern, ein Beben, das an ihrer Unterlippe seinen Ausgang nahm und von dort direkt in ihre Knie sank. Erlands Gesicht, seine Freude über den Eisbären, lediglich ein paar Stunden alt, katapultierte sich aus den wirbelnden Flocken heraus auf sie zu, lachte sie an und zerstob im Wind.
Tot.
Wie konnte das sein? Erland, dessen Familiensinn wie Kitt an ihnen allen klebte, nie aufdringlich, stets nur einen Anruf entfernt. Wie konnten die Verlässlichen, die Fürsorglichen die Lebenden verlassen? Wussten sie denn nicht, dass sie immer da zu sein hatten?
Kristoffer, dachte sie und presste einen Handrücken vor den Mund, den Geschmack des Erbrochenen noch auf der Zunge. Kristoffer war schlimmer gewesen. Nur hatte sie seinen Tod nicht gesehen.
Hast du nicht?
Ein Windstoß fuhr über sie hinweg und klatschte Schnee frontal in ihr Gesicht.
Dann schau her.
»Was machen wir denn jetzt?«
Niemand antwortete auf Hartmuts Frage. Tim hatte sich eine Zigarette angezündet und sog in scharfen Zügen, bis seine Wangen unter der Kapuze einfielen, die Lider nicht wie sonst beim Rauchen halb gesenkt, sondern weit aufgerissen. Wind griff in die weiß-gräuliche Asche am Ende der Zigarette und riss sie mit sich fort. Kirsten, Tim und Hartmut hatten sich so gedreht, dass sie mit dem Rücken gegen das Schneetosen standen, bloß Tobias schien es nicht zu kümmern, dass ihm die Flocken direkt ins Gesicht schlugen.
»Verdammt, wir müssen doch irgendwas tun!«, schrie Hartmut.
Tim warf seine Zigarette in den Schnee. »Ich rufe Longyearbyen an«, sagte er und stapfte in Richtung Gemeinschaftszelt. Wortlos blickten die anderen ihm nach. Doch Tim betrat das Zelt nicht. Er langte lediglich mit einem Arm durch den Eingang, ohne es zu betreten, ohne den Kopf hineinzuschieben, tastete, bis die Finger seine Tasche fanden. Mit ihr unter dem Arm eilte er zum Rest der Gruppe zurück. Das Satellitentelefon sah aus wie ein altes klobiges Handy aus den Anfangszeiten des mobilen Telefonierens, es hatte eine kurze runde Antenne. Aus einem Brustbeutel entnahm Tim die Batterie, legte sie ein und drückte ein paar Tasten. Er fluchte.
In der Zwischenzeit war Ingrid wieder aus Fredriks Zelt aufgetaucht. »Was ist los?«, fragte sie. »Funktioniert es nicht?«
»Vielleicht ist die Batterie alle.«
»Wie kann das sein?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe von Oda auf dem Schiff eine frische bekommen.« Er drückte abermals ein paar Tasten, hektischer diesmal. »Die Batterie war voll aufgeladen, wir haben sie ausprobiert. Sie sollte funktionieren.« Er nahm die Batterie heraus und legte sie neu ein. Nichts, das Gerät blieb tot.
Tobias zerrte sich die Handschuhe herunter, riss Tim das Telefon aus den Händen und versuchte es selbst. Erfolglos. »Es funktioniert nicht«, flüsterte Hartmut. Ingrid bekam gerade noch Tobias’ hingeworfene Handschuhe zu fassen, bevor der Wind sie hinaus in die endlose Finsternis wirbeln konnte. »Pass auf!«, warnte sie. »Mach hier nicht solche Fehler.«
Tobias achtete nicht auf sie. In seinem Frust schlug er mit der flachen Hand auf den Rücken des Telefons und drückte die Tasten so heftig, als könne er sie durch pure Kraft zum Leben erwecken.
»Könnten wir nicht die Batterie des GPS-Geräts verwenden?«, fragte Hartmut.
»Nein, das ist nicht dasselbe Modell.«
Tobias ließ sich auf die Ladefläche des Schlittens fallen, weiterhin das Satellitentelefon schüttelnd.
»Und jetzt?«, fragte Kirsten, selbst erstaunt, wie klar und fest ihre Stimme klang. »Was sollen wir jetzt tun?«
»Wir haben doch den Notpeilsender«, schlug Ingrid vor. »Wenn wir den betätigen, weiß der Gouverneur, dass wir in Schwierigkeiten stecken.«
»Ja, ja, das ist gut!«
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