Ins Eis: Roman (German Edition)
Hartmut nickte heftig. »Lasst uns das machen! Der Notpeilsender.«
»Wir können mit dem Sender nicht telefonieren«, wandte Tim ein. »Das ist ein Sender, kein Telefon. Es ist eine Einbahnstraße, wir können lediglich ein Signal abschicken, das dem Gouverneur übermittelt, wo wir sind. Ein Notsignal ohne Inhalt, ohne Erklärung. Sie können uns damit nicht einmal selbst kontaktieren.«
»Na und? Was macht das für einen Unterschied? Sie werden das Signal erhalten und herkommen. Das wollen wir doch!«
Sie blickten Tim an, der sich über das Gesicht rieb, die Augen gegen den Wind zusammenkniff und an ihnen vorbei in Richtung Fjord sah. Schneeflocken verfingen sich in seinem Dreitagebart und tauten sofort.
»Worauf wartest du noch, Tim? Hol den verdammten Peilsender!« Hartmut ging so weit, Tim sogar leicht zu schubsen. Der schüttelte die Berührung ab und gleichzeitig den Kopf. »Schaut euch doch um«, sagte er, für den heftigen Wind fast zu leise, »dies ist schon jetzt mehr als nur schlechtes Wetter. Wir wissen nicht, wie schlimm es noch wird. Stellt euch vor, wenn unser Notsignal in Longyearbyen eintrifft, dann müssen sie dort entscheiden, ob sie heute Nacht noch ausrücken oder ob sie den Sturm abwarten. Sie wissen ja nicht, was los ist, nur, dass wir ein Notsignal abgesetzt haben.«
»Na und? Genau das ist es doch, ein Notfall!«
»Einer, der einen Rettungseinsatz unter diesen Umständen rechtfertigt? Ich meine, dies ist kein Herzinfarkt, bei dem wir sofort Rettung herbeischaffen müssen. Wir haben einen Toten. Man kann nichts mehr tun.«
»Verdammt, gib mir diesen Sender, und ich drücke selbst diesen Scheißknopf!«
Ingrid schüttelte Schnee von ihrer Kapuze. »Tim hat recht«, sagte sie. »Man muss das abwägen: das Wetter und uns. Die Leute hier im Rettungseinsatz sind mit die Besten, die es gibt. Sie gehen an die Grenzen dessen, was möglich ist, und finden sich auch unter schlechtesten Bedingungen noch zurecht, aber selbst für sie ist das kein Spaziergang. Es kann Stunden dauern, bis sie hier sind, und es bleibt ein Risiko. Wie Tim sagt, wir wissen nicht, ob es nicht noch viel schlimmer wird oder wie es zwischen hier und Longyearbyen aussieht. Da muss man abwägen: Brauchen wir wirklich einen Rettungseinsatz? Selbst wenn das jetzt zynisch klingen mag: Wir haben einen schrecklichen Unfall, einen Todesfall, ja, aber keinen medizinischen Notfall, und die Kälte wird alles für die Untersuchung konservieren.«
»Und was, schlagt ihr vor, sollen wir stattdessen tun? Hier herumsitzen, die ganze Nacht lang, mit einer Leiche in der Mitte? Warten, bis es hell wird?«
Tim nickte langsam. »Sobald es Tag wird, fahren wir zurück zur ›Noorderlicht‹. Das Schiff ist nicht weit entfernt, von dort rufen wir dann über deren Satellitentelefon Longyearbyen an.«
»Und wenn es morgen früh immer noch so stürmisch ist?«
»Das sehen wir dann. Im Zweifelsfall fahre ich allein, oder wir setzen doch noch das Notsignal ab.«
»Das gefällt mir nicht«, flüsterte Hartmut.
Tobias, auf dem Schlitten sitzend, schien den Blick nicht von dem Zelt, in dem Erlands erkaltende Leiche lag, lösen zu können. »Wieso ist das passiert?«, fragte er und wiederholte die Frage gleich darauf noch einmal, deutlich lauter.
Kirsten bat ihn, leiser zu sprechen, aus Angst, Fredrik würde ihn hören. Ingrid meinte, das sei unwahrscheinlich, selbst wenn sie schreien würden, würde der Wind ihre Stimmen davontragen, außerdem habe sie Fredrik ein Beruhigungsmittel gegeben.
»Was hat er zu dir gesagt, als er im Zelt lag?«, fragte Kirsten die Ärztin. »Es war Norwegisch, ich habe nichts verstanden, es klang nur wie immer dasselbe.«
»Er sagte, er sei verflucht. Weshalb hätte er Spitzbergen nicht einfach hinter sich lassen können wie alles andere auch? Er sagte, er habe seine beiden Söhne getötet.«
»O Scheiße!« Tobias presste beide Hände gegen die Schläfen und beugte sich vor, bis sein Kopf zwischen seinen Knien lag. Er hatte bislang offenbar gar nicht an Kristoffer gedacht. Zwei Kinder, zwei Söhne. Beide tot. Innerhalb von einem halben Jahr, keine hundert Kilometer voneinander entfernt.
Die auskühlenden Tränen auf Kirstens Wangen fraßen sich in ihre Haut.
»Erland muss sich das Gewehr genommen haben«, sagte Hartmut, die Frage seines Sohns aufgreifend. »Mein Gott, er hat ja all die Tage immer davon geredet, er wolle es sich anschauen, als ob es nichts Interessanteres gäbe! Er hat es sich genommen, als Tim
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