Ins Eis: Roman (German Edition)
da das Zelt der Frauen das hinterste in der Reihe war, wurde es im Schneegestöber ein weiter Weg bis zum Gemeinschaftszelt. Dort erwärmte einzig die Hitze des Kochers die Luft auf knapp unter null Grad. Kirsten wollte es sich gerade zwischen den anderen auf den ausgelegten Matten gemütlich machen, als Tim hereinkam und verkündete, sie hätten zwei der Zelte falsch aufgestellt. So, wie sie jetzt stünden, zeige die Breitseite mit dem Eingang in den Wind; es sei besser, sie zu drehen. Außerdem müsste er sein Hundeteam ein wenig nach vorne ziehen, damit rückten die Leithunde allerdings zu dicht an die Toilette, weshalb diese wiederum ein Stück nach hinten verlegt werden müsse. Der Wind würde wohl noch heftiger werden, daher wollte er diese Dinge lieber sofort erledigt haben, bevor sie das Abendessen zubereiteten.
Erland fragte, ob er endlich einen näheren Blick auf das Gewehr werfen könne, das Tim neben dem Eingang des Gemeinschaftszelts abgelegt hatte.
»Ich würde vorschlagen, wir machen erst unser Lager sturmsicher, alles andere kann bis nach dem Essen warten«, wiegelte Tim ab. Ergeben schlüpften alle wieder in ihre Jacken, zogen die Reißverschlüsse hoch, Stiefel und Handschuhe an, dann traten sie hinaus in die Dunkelheit des polaren Winterabends und den geräuschlos tobenden Schnee.
Kirsten half den Männern dabei, ihre Zelte zu drehen. Zwar stand ihr und Ingrids Tunnelzelt passend im Wind, dafür hatten sie einige Heringe nicht tief genug vergraben, weshalb nun die Abspannleinen durchhingen. An einer Seite flappte bereits der Zeltstoff bei jeder stärkeren Böe vor und zurück, ein rhythmisches Schlagen, was ihnen in der Nacht zusetzen würde. Während Ingrid mit ihrem Spaten in Richtung Toilette verschwand, machte Kirsten sich daran, die lockeren Heringe auszugraben und an anderer Stelle tiefer als zuvor im Schnee zu versenken.
Sie arbeitete rasch mit ausgreifenden Bewegungen, benutzte den Schaufelgriff statt des Blatts, um fünfzig Zentimeter tiefe Kuhlen auszuheben. Die Sicht reichte gerade einmal bis zum übernächsten Zelt. Der Wind ließ Kirsten Kopf und Kinn schützend auf die Brust drücken, die Kapuze tief in die Stirn gezogen, bis teilweise gar das Licht ihrer Stirnlampe unter dem Kapuzensaum verschwand. Manchmal hielt sie während des Grabens inne, drehte sich um, ein Prickeln im Nacken, aber da war niemand. Bloß ihr Schlitten mit den schlafenden Hunden und jenseits davon die undurchdringliche Dunkelheit über dem Fjord.
Dann peitschte ein Schuss durch die Nacht.
Irritiert richtete sich Kirsten auf, schlug die Kapuze zurück. Ihr erster Gedanke galt einem Eisbären im Lager. Doch die Hunde schwiegen. Ein paar Köpfe hoben sich hinter ihr aus dem Schnee, dreieckige Ohrspitzen zuckten aufmerksam in Richtung des dem Fjord zugewandten Lagerrandes. Als Kirsten zu ihrem Team leuchtete, fluoreszierten die Augen der Hunde gespenstisch im Schein der Halogenleuchten.
Sie ließ den Spaten fallen und begann zu rennen.
Aus allen Enden des Lagers sprangen an Stirnlampen gekettete Schemen herbei. Gesichtslose, in ihrer schweren Montur mit den hochgeschlagenen Kapuzen gar figurlose Gestalten, träger in ihren Bewegungen als der schräg an ihnen vorbeiwirbelnde Schnee.
Bis Kirsten das Gemeinschaftszelt erreichte, hatte Tim den Eingang zur Seite geschlagen. Stocksteif stand er dort, halb drinnen, halb draußen, die behandschuhte Faust gegen das unter dem Druck nachgebende Zeltdach gepresst. Kirsten und Hartmut drängten gleichzeitig neben ihn, rempelten versehentlich gegen seine Schultern und brachten ihn beinahe aus dem Gleichgewicht. Kirsten spürte Tims Berührung auf ihrem Unterarm, er hielt sie fest, bevor sie einen Schritt zu weit gehen konnte. Er atmete schwer.
Das Zeltinnere wurde von einer Campinglampe erleuchtet, die Tim vorhin noch unter die Zeltdecke gehängt hatte. Sie schwankte an ihrem Haken von einer Seite zur anderen, malte taumelnde Schatten auf Boden und Wände. Von unten flackerten die Flammen des Benzinkochers. Auf ihm, im Topf, schmolz blutfleckiger Schnee. Neben dem Kocher, genau in der Zeltmitte, lag Erland, den Blick starr und leer auf den Ausgang gerichtet. Eine im unsteten Licht dunkel schillernde Lache Blut breitete sich von seinem Kopf auf den ausgelegten Isomatten aus. Zwischen seinem Körper und den hingeworfenen Handschuhen lag Tims von allen Schutzhüllen befreites Gewehr.
Der Anblick wirkte wie ein Faustschlag in die Magengrube. Kirsten bekam keine Luft mehr.
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