Ins Eis: Roman (German Edition)
Langsam glitt sie an ihr nach unten, bis sie in der Hocke kauerte, auf Augenhöhe mit Ingrid. »Du und Kristoffer«, fragte sie, »hattet ihr eine Affäre?«
Ingrid sagte: »Ja.«
Kirsten blickte auf ihre zwischen den Knien gefalteten Hände. Das Licht der Lampe reflektierte im Spiegel über dem hölzernen Waschtisch, es blendete, wenn sie in Richtung Waschkonsole sah. Der Heizkörper war unter dem Bett angebracht, Ingrid hatte ein paar Strümpfe zum Trocknen davorgelegt. Rote Rentiere zierten die Wolle oberhalb der Knöchel.
»Es tut mir leid«, fügte Ingrid hinzu.
Kirsten schaute rasch zu ihr und dann wieder auf ihre Hände. »Kannst du dich bitte aufsetzen?«, bat sie. »Ich möchte dieses Gespräch lieber nicht führen, solange du so im Bett liegst. Ich muss dich nicht sehen, wie mein Mann dich gesehen hat.«
Fast geräuschlos glitt Ingrid aus dem Bett. Sie trug keinen Schlafanzug, sondern nur einen Slip und ein weit geschnittenes langärmliges Shirt. Sie setzte sich auf den dunklen Holzboden vor ihrem Bett, den Rücken an das Holzgestell gelehnt. Auf diese Art saß sie Kirsten gegenüber, kreuzte die nackten Beine unter sich zu einem Schneidersitz. Weniger als ein Meter leerer Raum trennten ihre Beine voneinander. Ingrids rötlich blonde Haare waren am Hinterkopf zerzaust, das Stecknadel-Piercing am Nasenflügel verbarg sich im Schattenspiel ihrer Gesichtszüge. Sobald Kirsten das Tosen ihrer Gedanken für einen Moment beiseiteschob, konnte sie Ingrids Atmen hören.
»Wie lange ist das zwischen euch gegangen? Hast du mich angelogen, als du sagtest, ihr hättet euch im Sommer das erste Mal wegen Kristoffers Recherchen zu Fredriks Vergangenheit getroffen?«
»Ich bin darauf nicht stolz, Kirsten. Ja, Kristoffer und ich, wir kannten uns schon vor letztem Sommer. Wir haben uns vor zwei Jahren kennengelernt, durch puren Zufall.« Ingrid drückte ihre Handflächen auf den dunklen Zimmerboden. »Es war hier auf der ›Noorderlicht‹.«
In jenem Jahr war Kristoffer nicht nach Spitzbergen gefahren. Er hatte es geplant gehabt, aber dann war Jonas krank geworden, und Kirsten hatte gerade ihre erste Ausstellung in einer Großstadt an Land gezogen. Also hatte er seine Reise kurzfristig abgesagt, um bei Jonas zu bleiben. Stattdessen war er später im Herbst für sechs Tage auf die Lofoten geflogen. Es hatte sich um eine Schiffsreise gehandelt, daran erinnerte sie sich jetzt. Ein Törn unter Polarlichtern.
»Im Spätherbst ist die ›Noorderlicht‹ bei den Lofoten unterwegs. Die Inseln liegen für Reisen zu den Polarlichtern auf dem perfekten Breitengrad, man kann dort besser Nordlichter beobachten als hier in Spitzbergen.« Ingrid hatte damals am Krankenhaus in Tromsø gearbeitet. Einer ihrer Patienten, ein Musiklehrer, hatte an Multipler Sklerose gelitten. Er hatte stets einen Bildband von den Lofoten mit ins Krankenhaus gebracht, die Liebe seines Lebens, wie er scherzhaft erklärte. Vor allem der Oktober und November hatten es ihm angetan, wenn sich die länger werdende Nacht über die Inseln ergoss, die Gipfel der Berge aus dem Wasser emporragten, ein überflutetes Gebirge, die schroffen Hänge überzuckert mit jungem Schnee, auf dem sich das Mondlicht brach. Und darüber die Polarlichter, in einem breiten Band von Gipfel zu Gipfel quer über den Himmel. Er wollte die Inseln noch einmal so erleben, wie er sie in Erinnerung hatte. Egal was die Ärzte ihm sagten, er war überzeugt, dass sein Krankheitsverlauf ihm schon bald nicht mehr erlauben würde, dorthin zu fahren. An Bord eines Schiffes wollte er durch sie hindurchsegeln, sechs Tage, fünf Nächte nur, das würde ihm reichen. Für seine Erinnerungen, denn er sagte, man sah anders, wenn man etwas zum letzten Mal sah, mit dem ganzen Körper, der Seele, und nicht nur mit zwei Augen und einem filternden Gehirn dahinter. Er hatte zwei Kabinen in seinem Namen auf der »Noorderlicht« reserviert, eine für sich und seine Nichte, die andere für einen Arzt, der seine Kondition kannte. Er bat Ingrid, ihn zu begleiten. Er würde alle Kosten für sie übernehmen und ihr zusätzlich fünftausend Kronen zahlen. Es war ein Angebot, das sie nicht ausschlagen konnte. Dort, an Bord der »Noorderlicht«, in den langen Nächten des späten Oktobers, im Schatten der majestätischen Berge und unter den lautlosen Fanfaren der Aurora Borealis, hatte sie Kristoffer getroffen.
»Ich habe seinen Namen auf der Passagierliste gesehen, kaum dass ich an Deck stand. Kristoffer Stolt. Ich
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