Ins Eis: Roman (German Edition)
Tanjas Erwiderung zuvor. »Wir waren keine Zeugen. Und auch sonst nichts. Ich meine, es war ein Unfall, niemand von uns hat Erland eingeflüstert, er solle sich diese verdammte Waffe nehmen!«
»Wenn Erland in diesem Moment alleine war«, sagte Tanja, »dann kann ihn auch jemand erschossen haben.«
»Wenn er alleine war, dann kann nur er sich selbst erschossen haben«, stellte Peter richtig.
»Du weißt genau, was ich meine«, fauchte Tanja ihn an. »Behandle mich nicht, als wäre ich dumm, nur weil ich nicht in der Bank arbeite!«
»Tanja, du hast gerade in den Raum gestellt, dass einige Leute an diesem Tisch Erland womöglich ermordet haben könnten.«
»Einige? Einer würde reichen.«
Plötzlich brüllten alle durcheinander. Elisabeth schrie Tanja an, sie sei wohl verrückt geworden, sie wolle auf keinen Fall, dass Fredrik so etwas von ihr höre, und überhaupt, was war das für eine fürchterliche Unterstellung! Tanja blaffte zurück, es gäbe doch einige unter ihnen, denen Erlands Tod sicherlich ganz genehm sei. Hartmut verbot seiner Frau den Mund, und Peter bemühte sich, alle zum Schweigen zu bringen. Es gelang ihm erst, als er auf den Tisch schlug. Alle zuckten zusammen. Bloß Tobias nicht, dessen Zeigefingerspitze die Rotweinpfütze suchte. Er tauchte den Finger ein, drehte ihn einmal im Kreis und leckte ihn dann ab, den Blick auf die Tischkante gerichtet.
Elisabeths Stimme war vor Wut ganz verzerrt. »Wir sind alle außer uns vor Schock, Tanja«, stellte sie klar. »Erlands Tod ist keinem von uns – was hast du gesagt? – genehm . Im Gegenteil.«
Draußen an Deck wanderte eine aufglühende Zigarette an den Bullaugen vorbei und näherte sich der Eingangstür. Kurz bevor sich der Türgriff nach unten bewegte, griff Tobias Elisabeths letzte Worte auf, mit belegter Stimme, es war unmöglich zu entscheiden, ob nicht doch ein Hauch Gelächter darin mitklang. »Ja genau, Tante. Ganz im Gegenteil. Erlands Tod wird für uns alle noch sehr unangenehm werden. Kann ich jetzt ins Bett gehen, bitte?«
Als Kirsten zehn Minuten später die Tür zu ihrer Kajüte öffnete, pulverisierte der Anblick von Jonas’ zerwühltem leeren Bett das Gerüst aus Gefasstheit, das sie seit Kristoffers Tod geschützt hatte.
In den letzten Monaten und Tagen hatte sie sich manchmal gefragt, ob sie jemals den Punkt erreichen würde, an dem sie zerbrach. Kristoffers Tod hatte sie nicht an diese Grenze geführt. Was das andere betraf, die andere – sie wusste noch nicht, ob der Schaden von Dauer sein würde. Der Eisbär, die Kälte, die Taubheit in Fingern und Zehen hatten ihr die eigene Zerbrechlichkeit wie einen Spiegel vorgehalten und sie eine bislang unbekannte Art von Furcht gelehrt, eine, die Demut forderte, aber sonst nichts. In der Verlorenheit der sturmdurchtosten Nacht, in der sie nicht mehr aus eigener Kraft zum Lager zurückgefunden hatte, hatte sie ihre Dummheit verflucht, aber die Wut über sich selbst und die Panik hatten sich die Waage gehalten. Nicht einmal Erlands Tod hatte dazu geführt, dass sie ihren Halt in der Welt verlor, nicht die dunkle Pfütze Blut um seinen Kopf, das Loch im Schädel, umrahmt von gesplitterten Knochen. Es war sogar leichter zu ertragen als Monikas und Fredriks Leid. Die Familienzwiste, Tanjas Spitzen, Elisabeths Intrigen, Hartmuts Feindseligkeit, schienen Kirsten dagegen nicht mehr als Schrot aus Papierkügelchen, solange sie Jonas nur aus ihrer Reichweite hielt.
Und jetzt war Jonas fort.
Sieben Stunden hatte es nach Fredriks Besuch damals im August gedauert, bis Kirsten um Kristoffer hatte weinen können. Sieben Stunden, den Vorhang der Nacht, ein einsames Bett, ein leeres Kissen wie jetzt. Sie hatte damals gedacht, die Qual müsste doch ihrem Bauch entspringen, ihrem Herzen. Ein so starkes Gefühl sollte dort sein Epizentrum haben, in einer Erschütterung. Aber in Brust und Bauch zerbarst nichts, es war ihr Kopf, in dem die Verzweiflung keinen Ausgang fand, während ein zweiter, beobachtender Teil ihres Geistes sich selbst in der Trauer studierte.
Diesmal jedoch war es anders. Zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, würgend, die Faust zwischen ihre Brüste gepresst, stolperte Kirsten in die Kajüte hinein und riss das Bettzeug hoch, als ob Jonas klein und flach genug sein könnte, um unter der zerwühlten Decke übersehen zu werden. Doch da war lediglich eine Mulde in der Matratze, ein leerer Abdruck. Von der Wärme eines kleinen heißen Körpers keine Spur.
Dann hörte sie ihn
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